Herzschlag von Ostia

Da erhoben wir uns mit heißerer Inbrunst nach dem Sein Selbst
und durchwanderten stufenweise die ganze Körperwelt, auch den Himmel, von dem herab Sonne, Mond und Sterne leuchten über die Erde.
Und höher stiegen wir auf im Betrachten, Bereden, Bewundern Deiner Werke, und wir gelangten zu unserer Geisteswelt.
Und wir schritten hinaus über sie, um die Gefilde unerschöpflicher Fülle zu erreichen, auf denen Du Israel auf ewig weidest mit der Speise der Wahrheit.

Und dort ist das Leben die Weisheit,
die Weisheit, durch die alles Geschöpfliche entsteht, was je gewesen ist und je sein wird;
und sie selbst ist ohne Werden, sie ist, wie sie gewesen ist, und also wird sie stetsfort sein;
vielmehr, es gibt in ihr kein Gewesensein noch ein Künftigsein,
sondern das Sein allein, weil sie ewig ist;
denn Gewesensein und Künftigsein ist nicht ewig.

Und während wir so reden von dieser ewigen Weisheit, voll Sehnsucht nach ihr,
da streiften wir sie leise in einem vollen Schlag des Herzens.
Da seufzten wir auf und ließen dort festgebunden »die Erstlinge des Geistes«;
und wir wandten uns wieder dem Getön der Rede zu,
bei der das Wort Anfang und Ende hat;
was auch wäre ähnlich Deinem Wort, unserm Herrn,
dem Wort, das in sich verbleibt, ohne zu altern, und doch alles erneut!

Dieser Text, vielleicht die berühmteste und wirkmächtigste Passage von Augustins Bekenntnissen (Bekenntnisse, 9,24), hat das Leben von ungezählten Menschen, Gottsucherinnen und Gottsuchern, Nonnen und Mönchen, von Frommen in Mittelalter und Neuzeit, kurz: die gesamte Frömmigkeit des christlichen Westens wie nur wenige andere Texte beeinflusst. Er hat „wie ein Seebeben gewirkt und bis heute eine Springflut von Literatur erzeugt“. (Hattrup, 426) Man kann ihn philosophisch oder exegetisch, dogmengeschichtlich oder im strengen Sinn theologisch, biographisch oder auch als ein Stück Weltliteratur untersuchen. Als Generalist zwischen diesen Feldern will ich für meinen Freund, dem dieses Buch gewidmet ist, meinen eigenen Weg gehen. Dabei bin ich der Tatsache eingedenk, dass es sich um einen wirklichen Herzenstext handelt; er gipfelt in jenem „Herzschlag“, in dem Monnika und Augustinus das göttliche Geheimnis selbst berühren. Er hat ungezählte Menschenleben beeinflusst und geprägt. Mich hat er über Jahrzehnte begleitet und zur Auseinandersetzung herausgefordert.

In drei Schritten versuche ich, mich dem komplexen Text zu nähern. Zunächst beleuchte ich kurz die Textzusammenhänge, in die er eingebettet ist. Dann gehe ich genauer auf das spirituelle Ereignis ein, von dem der zentrale Text berichtet, um schließlich kurz auf die oft vergessene Sachproblematik einzugehen, in im Text zur Sprache kommt.

Der Monnikareport als Scharnier (Zusammenhänge)

Augustinus (354-430) wird in einem zerbrechenden Zeit- und Kulturraum geboren. Die vorchristliche Antike kommt an ihr Ende, das Mailänder Toleranzedikt (313) ist erst 40 Jahre alt. Augustins Mutter Monnika ist Numidierin, sein Vater Bürger der nordafrikanischen Kleinstadt Thagaste, nicht gerade ein Zentrum griechisch-römischer Kultur (Brown, Flasch). So nähert sich Augustinus dem geistigen Erbe des Reiches gleichsam von außen. Der 17-Jährige verschlingt in Karthago nicht nur die Schriften Ciceros, dessen Hortensius ihn zum großen Wahrheitssucher macht. Dann beschreitet er einen dramatischen inneren Weg zum Manichäismus, den er bald wieder hinter sich lässt. Mit 29 Jahren geht er nach Rom, bald nach Mailand. Dort lernt er Ambrosius, den glänzenden Vertreter eines christlichen Platonismus kennen, findet 386 endgültig zum christlichen, von philosophischer Tradition gesättigten Glauben und lässt sich in der Osternacht 387 taufen, um im kommenden Jahr nach Afrika zurückzukehren, wo er als Bischof sein gewaltiges Werk schreiben wird.

Doch wer genau ist Augustinus, dieser an Philosophie und Lebensfragen hochinteressierte, kontaktfreudige junge Mann, der fünfzehn Jahre lang einer Frau die Treue hält und seine Vaterrolle ausfüllt? Was bedeutet ihm seine Mutter, in der sich die Brüche von Augustins Werdegang spiegeln, die ihm bis nach Rom und in Mailand auf den Fersen bleibt und auf deren Drängen hin er seine Partnerin verlässt? Man kann nicht behaupten, sie sei ihm gleichgültig geworden, aber der Nachwelt hinterlässt er nicht einmal ihren Namen. Umso nachdrücklicher wird ihn jetzt seine Mutter begleiten, bis sie in Ostia stirbt und begraben wird.

Der zitierte Text ist in eine breitere Thematik eingebettet. Sie lautet nicht Berührung Gottes, Vision oder intellektueller Aufstieg (Hattrup, 428-430; Coyle), sondern Monnika oder der Abschied. Denn wir haben es mit einer Texteinheit von 3300 Wörtern zu tun (9,17-37), die sich mit Monnika und deren Tod befasst. Dieser Monnikareport bildet die Konstruktionsmitte der Bekenntnisse (Fuhrer; Kienzler, 234-251), in seiner eigenen Mitte steht wiederum die oben zitierte Ostiaerfahrung. Um die Mutter geht es, „die mich auch im Fleische getragen hat, damit ich diesem zeitlichen Licht, und im Herzen, damit ich dem ewigen geboren würde“ (9,17). In ihr verbinden sich in seltsamer Weise dieses zeitliche und dieses ewige Licht.

Was für eine Persönlichkeit war diese Frau? Das rückblickende Porträt, erstes Drittel des Reports (9,7-22), erinnert an ihre Kindheit und ihren Werdegang. Streng wurde sie erzogen, von drohenden Alkoholproblemen bewahrt. Sie zeigt Energie und Gestaltungskraft, aber Geduld, Untertänigkeit und Friedenswille kennzeichnen ihren Umgang mit Patricius, dem höchst problematischen Ehegatten. Den von ehelicher Gewalt gezeichneten Freundinnen empfiehlt sie nicht Widerstand und Solidarisierung, sondern eine ebenso grenzenlose Gutmütigkeit und jene Klugheit, mit der sie sogar ihre Schwiegermutter besänftigt. Ist sie Friedensstifterin, passive Dulderin oder flüchtet sie immer mehr in die Frömmigkeit?

„Schon nahte der Tag, da sie aus diesem Leben scheiden sollte.“ Das zweite Drittel des Reports (9,23-28) berichtet von ihren letzten Tagen, jener zentralen Erfahrung vor allem, da Mutter und Sohn gemeinsam am Fenster stehen und vom ewigen Leben der Heiligen sprechen, sich „mit heißer Inbrunst“ zum „Sein Selbst“ erheben, um es für die Länge eines Pulsschlags zu berühren. Für Monnika sind jetzt die Tage gezählt. Es folgen noch neun Tage mit Fieber, Phasen der Bewusstlosigkeit, dann ihre Bitte, sie in Ostia zu begraben. Alsbald tritt der Tod ein. Vielleicht war es der 12. Mai 387. Monnika ist 56, Augustinus, jetzt endlich erwachsen und zu sich gekommen, 33 Jahre alt.

„Ich drücke ihr die Augen zu“, so beginnt der letzte Teil des Monnikareports (9,29-37). Für Augustinus beginnen Tage der Tränen und des Trostes. Seine Seele ist verwundet, „wie auseinandergerissen das Leben, das aus dem meinigen und dem ihrigen eins geworden war“ (9,29). Er nimmt ein Bad, das Trost bringen soll, versucht zu schlafen, trifft Vorkehrungen für die Beerdigung, aber der Schmerz bleibt. Es wäre nicht dieser sensible Mann permanenter Selbstbeobachtung, würde er sich nicht über seine eigene Schwäche ärgern: „So schmerzte mich mein Schmerz zu neuem Schmerz, und ich härmte mich in doppeltem Leide ab.“ (9,31) Für den Teil einer Stunde lässt er die Tränen strömen. Schließlich bittet er am Altar Gott für die möglichen Sünden seiner Mutter um Vergebung.

Der Aufstieg als Zentrum (Ereignis und Interpretation)
Damit ist der Hintergrund für den Text skizziert, der exakt die Mitte des zentralen Dokuments der Bekenntnisse bildet. Es geht um unbeschreibliches Glück, erhofft und doch unerwartet, ein innerer Aufstieg über alles Geschaffene hinaus, zwar nur für die Dauer eines Pulsschlags, aber in seiner Wirklichkeit und für die Erinnerung beglückend genug. In der Unmittelbarkeit elementarer Weltsicht werden drei Wirklichkeitsstufen durchschritten: die uns gegenwärtige Welt, der Himmel mit seinen Gestirnen, darüber die Welt der Geister, schließlich erreichen sie die ewige Weisheit selbst. Mit ihr treten wir nach Augustinus in eine Realität ein, die die Qualität seiner bisherigen Erfahrungen übersteigt.

Dabei bleiben Fragen:
(1) Geschieht hier wirklich Neues? Augustinus hat solch mystische, im Neuplatonismus bekannte, für ihn immer enttäuschende Versuche schon mehrere Male beschrieben (Kienzler, 182-206). Warum hält er diese Erfahrung hier zum ersten Mal für gelungen? Der Grund liegt in der Bekehrungserfahrung von Cassiciacum, die ihm Gewissheit wie ein „Licht“ ins Herz gibt, so dass „alle Nacht des Zweifelns hin und her verschwand“ (8,29); endlich kann er seinen alten Lebensstil aufgeben. Diese Gewissheit inneren Erneuertseins begleitet die Erfahrung von Ostia (van Hoof, 343-388). Es geht um eine „Mystik des Willens“ (Hattrup, 428-430), einen lebenspraktischen Kontext, der jetzt zu gelingen scheint. Diese Erfahrung entspringt keiner gekonnten Meditationstechnik.

(2) Was ist vom Doppelcharakter dieser Erfahrung zu halten? Der Gedanke, dass zwei verschiedenen Personen dieselbe, jeweils höchst persönliche Erfahrung zuteil wird, ist einzigartig und gibt Rätsel auf. Haben Mutter und Sohn wirklich dasselbe erfahren? Ging es um das Glück geglückter Kommunikation? Waren sie von einer gemeinsamen Intuition getragen? Nach Textbefund kommen Gesprächsthema und Erfahrung, informative und performative Anteile zur Deckung. „Wir unterhielten uns also allein, köstlich innig….“ Wir fragten uns, „welcher Art dereinst wohl das ewige Leben der Heiligen sei“. Es „lechzte begierig unser Herz nach den Wassern aus der Höhe“ (9,23). Solche gemeinsamen Worte gehen in eine gemeinsame Wirklichkeit über. Vorstellungen und Gefühle vernetzen sich, ein gemeinsamer Raum der Projektion und Imagination entsteht. Augustinus bringt genau diese Dramatik ins Wort, indem er zwischen Gespräch und Erleben unterscheidet. Denn mitten im Gespräch beginnt die Erfahrung: „Da erhoben wir uns … und durchwanderten … und höher stiegen wir auf“. Aber bald nimmt er diese Unterscheidung wieder mit der Bemerkung zurück, das alles geschehe „im Betrachten, Bereden, Bewundern Deiner Werke“. Vor dem Höhepunkt selbst baut er noch einmal retardierende Momente ein. Zunächst erklärt er, was für ihn eine Gegenwart ohne Werden und Vergehen bedeutet. Dann verweist er zum dritten Mal auf die Gesprächssituation: „und während wir so reden“ (Präsenz!), „berührten“ (Perfekt!) wir die Weisheit unmerklich, aber mit der Vitalität eines Pulsschlags. Dabei tritt Augustinus als Wortführer und als ein Interpret auf, der sich mit Monnika in tiefer Einheit weiß. Wir kommen darauf zurück.

(3) Warum wird im weiteren Textverlauf der Aufstieg verdoppelt? Vielleicht liegt der Grund im Verhältnis von Mutter und Sohn. Für einen Herzschlag sind sie versöhnt, umso schmerzlicher wird die baldige Trennung. Augustinus, der bald Überlebende, buchstabiert ein und dieselbe Erfahrung einmal in einem einzigen, präzise durchkomponierten Satz von 185 Worten noch einmal durch. Jetzt stellt er sie nicht mehr als äußerlichen Aufstieg, sondern in hochphilosophischer Reflexion als wachsenden Abstand von allem Sinnlichen dar, als verschärfte innere Konzentration, als eine Zurücknahme seiner selbst, als einen Weg ins absolute Schweigen. Zwar beginnt diese Neuaufnahme des Geschehens wiederum als Teil ihres Gesprächs („wir[!] sagten also…“), aber am Ende der Gedankenkette ist Monnika aus dem Gesichtsfeld verschwunden („solcherlei sprach ich[!], obzwar nicht in dieser Form und denselben Worten“):

Wir sagten uns also:
Brächte es einer dahin,
dass ihm alles Getöse der Sinnlichkeit schwände,
dass ihm schwänden alle Inbilder von Erde, Wasser, Luft,
dass ihm schwände auch das Himmelsgewölbe und
selbst die Seele gegen sich verstummte und selbstvergessen über sich hinausschritte,
dass ihm verstummten die Träume und die Kundgaben der Phantasie,
dass jede Art Sprache, jede Art Zeichen und alles, was in Flüchtigkeit sich ereignet, ihm völlig verstummt
 – denn wer ein Ohr dafür hat, dem sagt das alles: »nicht wir sind’s, die uns schufen, sondern es schuf uns, der da bleibt in Ewigkeit« –
wenn also nach diesem Wort das All in Schweigen versänke, weil es sein Lauschen zu dem erhoben hat, der es erschaffen,
und wenn nun Er allein spräche,
nicht durch die Dinge, nur durch sich selbst,
so dass wir sein Wort vernähmen
nicht durch Menschenzunge, auch nicht durch Engelsstimme und nicht im Donner aus Wolken, noch auch in Rätsel und Gleichnis,
sondern Ihn selbst vernähmen, den wir in allem Geschaffenen lieben,
Ihn selbst ganz ohne dieses,
wie wir eben jetzt uns nach ihm reckten und
in windschnell flüchtigem Gedanken an die ewige, über allen beharrende Weisheit rührten;
und wenn dies Dauer hätte und
alles andere Schauen, von Art so völlig anders, uns entschwände
und einzig dieses den Schauenden ergriffe, hinnähme, versenkte in tiefinnere Wonnen,
dass so nun ewig Leben wäre, wie jetzt dieser Augenblick Erkennen, dem unser Seufzen galt:
ist nicht dies es, was da gesagt ist: »Geh ein in die Freude deines Herrn«?
Und wann das?
Dann, »wenn wir alle auferstehen, aber nicht alle verwandelt werden«?
Solcherlei sprach ich, zwar nicht in dieser Form und denselben Worten. (9,15)

Der Neuplatoniker kommt jetzt zu Wort, der seine philosophische mit seiner christlichen Bekehrung konfrontiert und zum Ergebnis kommt: Dieser Aufstieg kann nur in der Auferstehung zum Ziele kommen. Meist wird der Irrealis des Satzes ebenso übersehen wie die eigentliche, die elementare und existentielle Folgerung der Mutter, die lautet:

Was mich anlangt, so hat nichts mehr Reiz für mich in diesem Leben.
Was ich hier noch tue, warum ich überhaupt noch hier bin, ich weiß es nicht, da ich von dieser Zeitlichkeit nichts mehr erwarte.
Eines nur war es, um deswillen ich noch ein Weilchen zu leben wünschte:
Dich wollte ich als katholischen Christen sehen, ehe ich stürbe.
Überreich hat es mir Gott mir gewährt,: als seinen Knecht darf ich dich sehen, da nun auch das Erdenglück dir nichts mehr bedeutet.
Was tu ich noch hier? (9, 26)

Zwei unterschiedene Echos auf dieselbe Erfahrung, völlige Entsagung gegenüber dieser Welt als gemeinsamer Kern! Monnikas Reaktion wirkt wie der natürliche, von Versöhntheit getragene Reflex auf ihre eigene Situation. Der Irrealis des Sohnes begründet sein Seufzen, die Dunkelheit seines gelebten Augenblicks (E. Bloch). Die Radikalität des definitiv gelingenden Weges bleibt bestehen. Schauen will er ja „Ihn selbst, ganz ohne dieses [Geschaffene]“, also als reines Schweigen, im Entschwinden alles anderen Schauens, als vorbehaltlose Negation. Das wahre Ziel setzt Tod und Auferstehung voraus. Dass es seiner Mutter jetzt schon bevorsteht, versöhnt den Sohn mit dem Misslingen aller spekulativen Theodizee, die der hochintelligente Denker so lange angestrebt hatte.

(4) Schafft diese Erfahrung also Erfüllung? Die Antike kennt wohl keinen anderen Text, der den Weg zur reinen Wahrheit dichter, brillanter und mit größerer Intensität dargestellt hat. Sie kennt aber auch keinen anderen Text, der die Problematik dieser Antizipation schärfer herausstellt. Der erste Durchgang schafft Verheißung, noch unerfülltes Versprechen. Der zweite enthüllt den Preis dieses Glücks. Welttranszendenz enthüllt sich als Weltflucht und Weltnegation, als Beginn eines mühsamen Weges, wie Augustinus im folgenden Buch darstellt (10,39-64), als Besiegelung einer Leibdistanz, die sich fixiert auf die „Gewohnheit, die unersättliche Begierde befriedigen zu müssen“ (6,22; Fuhrer 166-171). Für Monnika dagegen mündet das Ereignis in eine direkte Todessehnsucht. Der Aufstieg zur Weisheit nimmt eine Todeserfahrung vorweg, die Monnika akzeptiert und Augustinus schmerzlich als Trennung vom göttlichen Ziel erfährt. „Du hast gerufen und geschrieen und meine Taubheit zerrissen; Du hast geblitzt, geleuchtet und meine Blindheit verscheucht; du hast Duft verbreitet, und ich sog den Hauch und schnaube jetzt nach Dir; ich habe gekostet, nun hungere ich und dürste; Du hast mich berührt, und ich brenne nach dem Frieden in Dir.“ (10,38) Das sind die Folgen, die jener Herzschlag bei Augustinus und bei Ungezählten hinterlassen hat. Vor diesem Hintergrund nehmen wir den Monnikareport ein letztes Mal in den Blick.

Drei Stimmen im Zusammenspiel (Komplikationen im Hintergrund)

Die Erfahrung von Ostia bildet die Mitte des Monnikareports und die Schlüsselszene des gesamten Werks. Gezeigt wird ein Weg, der die Welt überwindet, sie hinter sich lässt und doch noch ertragen muss. Der Monnikareport deutet diese Erfahrung als Weg in das Schweigen und bindet sie an biographische Erinnerungen zurück. Neu und unerwartet ist, dass Augustinus seinen eigenen Weg in dem seiner Mutter spiegelt. Wer den Monnikareport streng als literarische Einheit begreift, wird in ihm drei Stimmen entdecken, die einander interpretieren. Da ist (1) die Stimme der Mutter – in der dritten Person eingeführt -, die als gute Erinnerung gegenwärtig ist. Auf sie antwortet (2) die Stimme des Sohnes, die sich – als Ich auftretend – als die Abhängige und Geleitete weiß, die Textfäden aber in den Händen hält. Schließlich bleibt (3) die Stimme des Göttlichen, als Du angeredet, immer im Verborgenen und führt dennoch Regie.

(1) Stimme der Mutter
Bringt die Stimme der Mutter die reale Monnika zur Geltung? Zweifel sind angebracht. Wie im Gesamtwerk, so wird diese Stimme auch im Monnikareport gezielt eingesetzt. Schon die Geburt wird gegenüber dem Ursprung der Seele in Gott relativiert. „Es empfingen mich also die Wohltaten der menschlichen Milch, und nicht meine Mutter und nicht meine Ammen füllten sich die Brüste, sondern Du gabst mir durch sie die Nahrung des Säuglings …“ (1,7). Schärfer lässt sich das, was eine Mutter für ihr Kind bedeutet, nicht instrumentalisieren. Die Mutter erscheint ausschließlich in Augustins vitalen Krisen auf Leben und Tod; auch dann geht es nicht um seine Pflege, sondern um die Frage der Taufe. Monnika erscheint bei Augustins existentieller Krise in Mailand; als Erste hört sie vom Bekehrungserlebnis in Cassiciacum. Bei dieser Dramaturgie ist es nur konsequent, dass Monnika wenige Wochen nach Augustins Taufe stirbt.

Hinzu kommen Informationen, die das Geschehen in erstaunlicher Weise grundieren. Patricius etwa erscheint als Monnikas jähzorniger und untreuer Ehemann, nicht als Augustins Vater. Augustinus zeigt sich darüber befriedigt, dass Monnika nicht an seiner Seite bestattet sein will (Flasch, 252). Die Mutter ist Dulderin und Helferin, im Report so umfassend auf den Werdegang des Helden hin ausgerichtet, dass sie hinter ihm verschwindet. Selbst kommt Monnikas Stimme nicht zu Wort; auch der erwachsene Sohn vollzieht noch keinen Perspektivenwechsel.

So bekommt die Frage neue Nahrung: Wessen Erfahrungen kommen in Ostia zu Wort? Mourand und Coyle weisen darauf hin: Augustinus will seine Mutter gerade nicht als originäre Mystikerin, sondern als vorbildliche Christin zeigen, die auch zu höchster philosophischer Leistung fähig ist, zum furchtlosen Aufstieg zur ewigen Weisheit. Sie ist eine wahre Philosophin, weil sie eine wahre Christin ist.

Doch bei aller hohen Würdigung, die Augustinus hier seiner Mutter entgegenbringt, fällt jetzt umso mehr auf: Der Sohn lässt seine Mutter auch für diesen Beitrag nicht wirklich los. Das Ereignis erscheint eben nicht als Erfahrung Monnikas, sondern vornehmlich als Erfahrung des Sohnes, obwohl gemäß gestalterischer Absicht die Erfahrung der Mutter sowie deren Authentizität doch genau hier unmissverständlich in den Blick rücken müsste. Im zweiten Durchgang bleibt es dann der Sohn, der die Interpretationsrechte über die Mutter wieder ganz in Händen hält. So bleiben für die Erhellung von beider Verhältnis noch wichtige Fragen offen.

(2) Stimme des Sohnes:
Die Stimme des Sohnes beansprucht als Ich-Stimme hohe Authentizität und schafft sich ihre eigene Identität. Sie erscheint als ein Ich der Bewegungen, die im Monnikareport zur vorläufigen Ruhe kommen. Was wäre der Sohn ohne seine Mutter! Doch schauen wir genau: Monnika erscheint immer als Spiegel und Helferin des Sohnes, als dessen anderes Ich, Bürgin für dessen noch verborgene Identität. Der erste Visionsbericht zeigt eine Symbiose von höchster Intensität; die Gemeinsamkeit der Erfahrung bleibt in der Schwebe von Gespräch und Ereignis. Entgegen der dramaturgischen Absicht geht die Mutterstimme in der Ich-Stimme des Sohnes auf. Sie geht ihm voran, nachdem sie für ihn gelitten, gebetet und geopfert hat. Ob die beiden Stimmen zu Unrecht verschmelzen, soll hier offen bleiben. Die Dialektik von Weltflucht und Weltversöhnung wird aber nicht gelöst. Der zurückbleibende Sohn löst den Irrealis des zweiten Durchgangs nicht auf, weil er sich zuvor von der Mutter nicht gelöst hat. Nicht ohne Grund wird die Zeit in den folgendenden Bücher zum zentralen Problem.

Auch seine Stimme erhält eine dunkle Grundierung. Patricius, dem Vater, gesteht der Sohn nie eine eigene Stimme zu. Die Lebensgefährtin, der Augustinus durch ein gemeinsames Kind – „aus meiner Sünde geboren“ (9,14) – verbunden ist, wird aus seinem Weg zur Gotteserfahrung mit diskriminierenden Worten ausgeschieden (4,2; 6,25; 8,2). Auch hier gilt egozentrisch nur noch der Schmerz, den der Abschied für die eigene Seele bedeutet. Man fragt sich, warum die Stimme dieser verlassenen Frau nicht irgendwann die Stimme der Mutter ersetzt, warum die Partnerin dem Aufstieg zu Gott im Wege steht.

(3) Stimme der göttlichen Gnade:
Bleibt noch die Stimme der göttlichen Gnade, die der Anrede „Du“, „Gott“ oder einem Hoheitstitel eingeführt wird. Dieses göttliche Du erscheint als Ursprung, Gegenwart und Ziel von Augustins Leben, indirekt lenkend, erleuchtend, Glück verheißend. In der Berührung von Ostia beglückt göttliche Weisheit im Schweigen Mutter und Sohn. Vor allem fordert diese Stimme die Ordnung der Triebe, schenkt dazu in Cassiciacum aber auch Gewissheit. Diese Stimme weiß ein ganzes Leben zu integrieren und schließt dennoch aus. Sie fordert Demut (7,26), Verzicht auf „Fleischeslust, der Augenlust, Hoffart des Lebens“ (Buch 10). In Cassiciacum erklärt sie dieses Fleisch und seine Lüste zu Gegenindikatoren eines christlichen Lebens schlechthin (8,29). Gewiss, diese dritte Stimme führt zur Auferweckung, die den Tod zu überwältigen vermag. Aber selbst im letzten Wort des Kerntextes wird nur ein Teil der Auferstehenden „verwandelt“. Selbst dann behält sich diese Stimme ein letztes Wort über Sein und Nichtsein des Geschaffenen vor.

So verspricht diese Stimme Wahrheit, Licht und unzerstörbares Glück. Sie setzt aber auch Grenzen, mit der unsere Epoche nur schwer umzugehen weiß. Ihre Reinheit und ihren Glanz fasst ausgerechnet Augustinus, der Ästhet des Göttlichen, als umfassende Entsinnlichung, Entmaterialisierung, als Schweigen schlechthin zusammen. Vielleicht führt solche Radikalität der Weltabwendung zur ungetrübten Faszination, die diesem Text eigen ist. Es kommt nur darauf an, dass wir uns mit ihm auseinandersetzen, ohne ihm zu verfallen. Genau so kann sich ein Gespräch zwischen diesem Stück Weltliteratur und eigener Identität ergeben. Die spannende Frage bleibt, ob und wie wir Gott in der Zeit berühren können.

Literatur:
Die Augustinustexte sind der Übersetzung von Joseph Bernhart (Kösel-Verlag) entnommen.
Neben der bekannten Grundlagenliteratur zu Augustinus (P. Brown, K. Flasch, Th. Fuhrer):

J. K. Coyle, In Praise of Monica: A Note on the Ostia Experience of Confessions IX, in: Augustinian Studies 13 (1982), 87-96 (Lit!).

D. Hattrup, Die Mystik von Cassiciacum und Ostia, in: N. Fischer, C. Mayer (Hg.), Die Confessiones des Augustinus von Hippo. Einführung und Interpretationen zu den 13 Büchern, Freiburg 1998, 389-443 (Lit!).

K. Kienzler, Gott in der Zeit berühren. Eine Auslegung der Confessiones des Augustinus, Würzburg 1998.

J. A. Mourant, A Reply to dr. von Jess, in: Augustinians Studies 4 (1973), 175-177.

(erschienen in: Ch. Gellner, G. Langenhorst (Hg.), Herzstücke. Texte, die das Leben ändern. Ein Lesebuch zu Ehren von Karl-Josef Kuschel zum 60. Geburtstag, Düsseldorf 2008, 48-58)