Fünf Jahre Papst Benedikt – ein Interview

Für den deutschen Theologen versteht die Heilige Schrift den Petrusdienst nicht als absolutistisches System. Deshalb verurteilt Häring zentralen theologischen und ideologischen Auffassungen Ratzingers, die ihn seit dessen akademischer Studienzeit prägen.

 Monokratisch, antimodernistisch, proselytisch, konservativ, autoritär … Ließe man diese von Hermann Häring genannten Adjektive allein für sich stehen, könnte man auf eine parteiisch einseitige Beurteilung von Benedikt XVI. schließen. Aber der deutsche Theologe erkennt auch an, dass der Papst „respektable Dokumente“ veröffentlichte, die „innerhalb und außerhalb der Kirche“ anerkannt sind. Er schätzt auch den „Mut“ Benedikts XVI., verschiedene anstehende Themen zu diskutieren.

 Aber Häring bleibt nicht bei dem stehen, was der Papst tut, sondern möchte im Grunde wissen, was der Papst als historische Figur ist. „Die Heilige Schrift versteht den Petrusdienst nicht als absolutistisches System“, sagt er. Deshalb kritisiert er die zentralen theologischen und ideologischen Vorstellungen Ratzingers, die ihn seit seiner akademischen Studienzeit prägen, so Häring über E-Mail gegenüber IHU On-Line.

 Zu Jahresbeginn eröffnete Häring eine Kontroverse mit der Bemerkung, Der Papst solle nach dem Williamson-Skandal zurücktreten. Auch wenn der Rücktritt eines Papstes ein Tabu sei, so Häring, sei er „im Prinzip möglich“. Er meint, man solle offen über dieses Thema diskutieren. Immerhin gebe es für Bischöfe und Kardinäle vergleichbare Regeln.

 Hermann Häring ist Theologe und Direktor des Instituts für Religion, Wissenschaft und Kultur an der Universität Nijmegen, Niederlande. Ferner ist er als wissenschaftlicher Berater einer der externen Mitarbeitet an der Stiftung Weltethos, Tübingen. Einige seiner Werke sind: „Zum Problem des Bösen in der Theologie“ (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985), „Hans Küng. Grenzen durchbrechen“ (Matthias-Grünewald-Verlag, 1998) sowie „Theologie und Ideologie bei Joseph Ratzinger (Patmos Verlag 2001).

Das Interview

– Wie beurteilen Sie den Pontifikat Benedikts XVI. Nach seinen ersten fünf Jahren? Wohin führt er die Katholische Kirche?

Benedikt XVI. führt die Kirche autoritär und nach eurozentrisch-konservativen Kriterien. Sein Ziel ist die Rückkehr zu einer vormodernen und hellenistisch orientierten Kirche. Er sieht im 2. Vatikanischen Konzil nicht den Beginn zu weitergehenden Reformen, sondern eine äußerste Grenze, die auf keinen Fall überschritten werden darf. Das zeigen
(1) seine schweren Vorbehalte gegenüber ökumenischen Bestrebungen (die Kirchen der Reformation sind für ihn keine Kirche),
(2) seine massive Kritik an einer wissenschaftlichen Exegese (sein Jesusbuch bleibt auf dem Stand der frühen 1960er Jahre stehen),
(3) seine hohe Sympathie gegenüber der lateinischen Liturgie (damit steht der den Lefebrianern sehr nahe),
(4) seine theologische Kritik an den nichtchristlichen Religionen und
(5) sein distanziertes Verhältnis zur modernen Demokratie.

Wenn die Kirche seinen Zielen folgen würde, würde sie erneut in einem antimodernistischen Ghetto landen.

– Wie beurteilen Sie Ratzingers theologische und ideologische Gedanken? Sind seine Ideen dem 21. Jahrhundert angemessen?

Im Kern bleiben Ratzingers theologische und ideologische Auffassungen bis heute den Jahren seiner Studienzeit (1946-1957) verhaftet. Die Kirchenväter mit ihrem sakramentalen und auf das Bischofsamt konzentrierten Kirchenbild bilden die Hauptquelle seiner Inspiration. Die europäische Kirche bildet für ihn immer noch Zentrum und Maß der Weltkirche. Zugleich betrachtet er die Geschichte Europas als eine Geschichte des Verfalls mit den verhängnisvollen Stufen: Reformation, Aufklärung, Französische Revolution, Demokratisierung, Diktatur des Relativismus, Trennung von Kirche und Staat. Mit dieser Perspektive führt der Papst die Kirche nicht ins 21. Jahrhundert, weil deren politische und soziale, interreligiöse und interkulturelle Probleme nicht in den Blick kommen. Er gibt der Zukunft einer gewaltfreien, sozial gerechten und in Frieden versöhnten Menschheit keine Orientierung.

– Wie beurteilen Sie die neuesten Verhandlungen zwischen der Kirche und den Anhängern von Lefebre, den Anglikanern und den Orthodoxen Kirchen? Was besagt dies für die Zukunft des Ökumenismus im 21. Jahrhundert?

Schon als Präfekt der Glaubenskongregation führte J. Ratzinger jahrelange Verhandlungen mit den Anhängern Levebvres. Immer achtete er rein formal auf den Gehorsam gegenüber dem wahren Glauben, dem Papst und dem Konzil, aber nie wurde konkret über die antisemitischen und antiökumenischen, antimodernistischen und antidemokratischen Positionen dieser Gruppierung oder über deren Ablehnung der Religionsfreiheit gesprochen. Das zeigt, wie formalistisch und egozentrisch in Rom gedacht wird.

Das Angebot, dissidente anglikanische Priester und Bischöfe in einem eigenen Statut in die katholische Kirche zu übernehmen, ist gegenüber Canterbury nicht nur höchst anmaßend und unsensibel, sondern zeigt auch das ökumenisch proselytische Ideal des Papstes. Es lautet: Rückkehr aller Christen in das katholische Vaterhaus, das nach wie vor die Priesterweihe von Frauen ablehnt und Homophilie prinzipiell verurteilt.

Auch gegenüber den orthodoxen Kirchen sieht der Papst in den römisch-katholischen Auffassungen das einzige Kriterium, nach dem sich andere Kirchen zu richten haben. Benedikt XVI. hält unvermindert am juridischen Primat des Papstes vor allen anderen Kirchenführern fest. Auf dieser Basis kommen keine Dialoge zustande, die das Prädikat offen und geschwisterlich verdienen.

– Wie geht Ratzinger mit seiner monokratischen Rolle gegenüber der Kirche um? Können wir in den nächsten Jahrzehnten für die Kirche ein anderes Regierungssystem erwarten?

Die katholische Kirche wurde noch nie so monokratisch geleitet wie heute. In der Nachfolge von Johannes Paul II. hat Benedikt XVI. die monokratische Rolle Roms durch kirchenrechtliche Modifikationen und ein intensives Informationssystem weiter intensiviert. Unter den antireformatorischen Bedingungen der Neuzeit mag dieses System noch effektiv gewesen sein. Angesichts einer pluralisierten Welt und des wachsenden Selbstbewusstseins der Teilkirchen wird diese Monokratie in den kommenden Jahrzehnten ineffektiv werden. Wir brauchen für die Zukunft ein plurales System: Den (geschichtlich, kulturellen und sozial) höchst unterschiedlichen Teilkirchen ist eine weitgehende Autonomie einzuräumen. Deren leitende Personen (Patriarchen oder Präsidenten der entsprechenden Bischofskonferenzen und Synoden) müssen im Rahmen von partizipativen Systemen wohl abgewogene Entscheidungsbefugnisse erhalten. Das Modell der alten, in fünf Patriarchate gegliederten Kirche könnte als Modell dienen. Das Petrusamt des Bischofs von Rom könnte dadurch an Autorität und integrierender Kraft gewinnen.

– In der gegenwärtigen Kultur und Gesellschaft macht die Kirche einen theologisch und liturgisch konfusen Eindruck. Wie kommt Benedikt XVI mit den unterschiedlichen und innovativen Ideen von Theologen und Denkern ins Gespräch?

Ein Hauptproblem des gegenwärtigen Pontifikats besteht in seiner monologischen und theologisch inflexiblen Amtsführung. In der Regel lehnt der Papst neue theologische Ideen als die Quelle von Kirchen- und Glaubenskrisen ab und ideologisiert seine eigenen konservativen Konzeptionen als die wahre, von der Tradition legitimierte Lehre. Er versteht sich nicht als Schiedsrichter, der den sachgemäßen Diskurs von theologischen Ideen schützt. Er sieht sich vielmehr als ein oberster Theologe, dem sich andere Theologien unterzuordnen haben. Er verwechselt also die kirchliche Lehre mit theologischen Positionen, einen umfassenden Katechismus mit theologischen Lehrbüchern. So kommt kein wirklicher Dialog zustande.

Auch ist es kaum möglich, über die theologischen (und liturgischen) Verflechtungen der Kirche mit der Kultur offen zu diskutieren oder neue, den Kulturen angepasste Liturgien zu entwickeln. Unter vielen Theologen hat sich erneut eine Atmosphäre der Angst und der Selbstzensur breitgemacht. Man fühlt sich an die letzten hochautoritären Pontifikatsjahre von Pius XII. erinnert, der 1958 verstarb und dessen Regime die Notwendigkeit eines Konzils (1962-1965) erkennen ließ. Vieles spricht dafür, dass sich im Augenblick dieser Rhythmus wiederholt.

– Was sind die wichtigsten “Zeichen der Zeit”, die heute auf eine Antwort der Kirche warten? Wie kann sich die Kirche in einer “fließenden” und ungewissen Zeit gegenüber der Welt und der Gesellschaft verhalten?

Die wichtigsten „Zeichen der Zeit“ sind heute
(1) das ökologische Gleichgewicht der Erde,
(2) die politischen Folgen der industriellen und ökonomischen Globalisierungsprozesse,
(3) die daraus folgenden Probleme globaler Gerechtigkeit und Partizipation,
(4) die Gefahr explodierender Gewalt zwischen konkurrierenden Gruppen (Kulturen, Religionen, Kontinenten) sowie
(5) der Ruf nach einer gemeinsamen ethischen Orientierung, die von Religionen und anderen weltanschaulichen Systemen getragen wird.

Die Kirche kann nur dann effektiv an Problemlösungen mitarbeiten, wenn sie mit den anderen Weltreligionen kooperiert und sich auf die gemeinsame ethische Kompetenz besinnt. Auch die katholische Kirche muss sich vom Gedanken verabschieden, dass sie eine abgeschlossene Ethik besitzt, die sich auf die ganze Welt übertragen lässt. Sie kann aber im universalen Dialog ihre prinzipiellen Grundregeln (Gewaltlosigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und gegenseitige Treue) so dynamisieren, dass ihre Mitglieder zusammen mit anderen Menschen guten Willens vor Ort jeweils neue Erfahrungen und Kompetenzen entwickeln. Die Welt wartet auf kein universales ethisches System, sondern auf Netz- und Wurzelwerke eines solidarischen und menschenfreundlichen Engagements, das von einem unerschütterlichen Vertrauen auf Gottes Solidarität und Menschenfreundlichkeit gestützt ist. Dieses Ziel setzt allerdings den Abschied von allen autoritären Leitungsansprüchen voraus.

– Nach dem Skandal des Bischofs und Lefebvre-Anhängers Williamson sagten Sie, der Papst solle zurücktreten: “Wenn der Papst der Kirche etwas Gutes tun will, dann soll er zurücktreten”. Halten Sie nach den neuesten Entwicklungen des Falls noch immer daran fest? Warum?

Die massiven Proteste gegen die offizielle Versöhnung Roms mit einem antisemitischen Bischof haben leider nichts genützt. Statt die unglückliche Entscheidung zurückzunehmen, hat Benedikt XVI. die Protestwelle als mutwillige Aggressivität gegen ihn gedeutet. Für mich als deutschen Theologen ist dieses Verhalten nach wie vor des päpstlichen Amtes unwürdig. Ich finde den aktuellen Zustand nach wie vor unerträglich und verheerend. Benedikt XVI. sollte wissen, dass er dem Ansehen seines eigenen Amtes und der katholischen Kirche schweren Schaden zugefügt hat und nach wie vor zufügt. Streng genommen argumentieren seine Kritiker nicht gegen ihn, sondern zu seinen Gunsten. Die nächste Krise ist anlässlich einer beschleunigten Seligsprechung Pius’ XII. abzusehen. Die jüdische Welt wird sich erneut gedemütigt und nicht ernstgenommen fühlen.

Als Realist weiß ich natürlich, dass die Rücktrittsforderung einiger einfacher Katholiken keinen Erfolg haben wird. Der Rücktritt eines Papstes gilt immer noch als Tabu, obwohl er prinzipiell möglich ist. Aus verschiedenen Gründen (der Gesundheit, des Alters, einer angemessenen Amtsführung) sollte offen über die Frage nachgedacht werden, unter welchen Bedingungen ein Papst von seinem Amt zurücktreten kann oder soll. Schließlich gelten vergleichbare Regelungen auch für die Bischöfe und die Kardinäle der Kurie und schließlich haben Dogmatiker und Kirchenjuristen in früheren Jahrhunderten sogar über die Absetzung des Papstes unbefangen und intensiv nachgedacht. Die Hl. Schrift versteht den Petrusdienst nicht als absolutistisches System.

– Bis jetzt hat der Papst drei Enzykliken veröffentlicht: “Deus caritas est” [Gott ist die Liebe] (2005), “Spe salvi” [Auf Hoffnung hin sind wir gerettet] (2007) und “Caritas in veritate” [Die Liebe in der Wahrheit] (2009). Wie analysieren sie diese päpstlichen Texte im Blick auf die gegenwärtigen Erfordernisse des Katholischen Volks?

Mit seinen drei Enzykliken hat der Papst respektable Dokumente publiziert; sie haben innerhalb und außerhalb der Kirche viel Anerkennung gefunden. Insbesondere schätze ich den Mut, mit dem Benedikt XVI. in „Caritas in veritate“ viele Themen einfach deshalb angesprochen hat, weil sie jetzt fällig waren. Allerdings waren die Inhalte der drei Enzykliken prinzipiell vorhersehbar und weitgehend den Grenzen seines eurozentrischen Denkens verhaftet. Leider kommen politisch-emanzipatorische und kontextuelle Ansätze kaum zu Wort. Deshalb haben sie keinen wirklichen Fortschritt in unserer Begegnung mit der Welt gebracht.

Deshalb sollten weitere Enzykliken durch weltweite (offene oder vertrauliche) Konsultationen vorbereitet werden. So könnten die Stimmen der verschiedenen Kulturen und Kontinente sichtbar werden. Ein innerkirchlicher Dialog würde eingeleitet, der diesen Namen verdient, und die Autorität des Papstes würde gestärkt. Dann würde zum ersten Mal deutlich: Entsprechend den Erfordernissen des 21. Jahrhunderts hört dieser Papst auf die Stimmen aller Teilkirchen und bringt diese miteinander ins Gespräch. Der Paradigmenwechsel von einem autoritären zu einem geschwisterlichen Petrusdienst wäre eingeleitet.

13.01.2010