Selbstverliebtheit und Machtexzess. Zum Männerbund der römischen Hierarchie

In der römisch-katholischen Kirche rumort es gewaltig. Die Intrigen, die gegen Papst Franziskus gesponnen werden, sind ebenso bekannt wie deren Motive offenkundig. Inner- wie außerkirchlich halten Papstkritiker dessen Politik für eine Katastrophe. Viele sehen ihre eigene Machtposition in Gefahr und setzen deshalb alle vatikanischen und weltkirchlichen Blockadehebel in Bewegung. Wer sich mit Machtstrukturen auskennt, wird sich darüber nicht wundern.

I. Der Streit gerät aus dem Ruder

Wie viel Erfolg die Opponenten langfristig erzielen, ist schwer einzuschätzen; doch jetzt schon haben sie einen polarisierenden Effekt erzielt. Weltweit werden die Bischofskonferenzen an der Frage gemessen, ob und wie intensiv sie den Papst unterstützen, in seinem Sinne eigene Initiativen entfalten oder wenigstens Zeichen der Solidarität setzen. Dank geistig-theologischer Trägheit oder dank mangelnder Phantasie sind die bisherigen Reaktionen nicht berauschend. Bei der bisherigen Ernennungspolitik von Bischöfen ist das auch kein Wunder.

Zudem haben sich Aktionen zur Unterstützung des Papstes gebildet (siehe: https://www.wir-sind-kirche.de/?id=644). Die von Paul Zulehner und Thomáš Halík initiierte österreichisch-tschechische Initiative Pro Pope Francis hat gegen 75.000 Unterschriften gesammelt [12.09.2018]. Das mag man als Erfolg werten, doch im Vergleich mit früheren Petitionen verblasst diese Zahl. Die Kirchenvolks-begehren 1995 in Deutschland und Österreich erzielten noch mehr als 2,3 Millionen Unterschriften. Das ist kein Wunder, denn das Mobilisierungspotential in den katholischen Gemeinden ist rapide gesunken ‑ dies, obwohl befreiungstheologische Gruppen den Papst mit großem Enthusiasmus unterstützen und erst jetzt die große Stunde des 2. Vatikanischen Konzils gekommen sehen. Wahrscheinlich unterschätzen sie den Umschwung, der sich im Sinne eines global erneuerten Katholizismus erreichen lässt.

Inzwischen erfuhr die Polarisierung eine Steigerung, die man vor Jahren noch kaum für möglich hielt. Auch jeder Anschein eines innerkirchlichen Friedens hat sich aufgelöst. Schon der Brief von vier Kardinälen im Herbst 2016 (Brandmüller, Burke, Caffara† und Meisner†), galt als unerhört. Dabei hatten sie an gewissen päpstlichen Äußerungen nur „Zweifel“ angemeldet. Im Juni 2017 folgte ein zweiter Brief derselben Autoren. Der offene Brief von 62 „Priestern, Ordensleuten und Laien“ vom 24.09.2017 überschreitet eine weitere Tabugrenze. In höfischer Unterwürfigkeit formulieren sie eine „Kindliche Zurechtweisung über die Verbreitung von Häresien“. Ab jetzt durfte man den wahren Glauben des Papstes ungestraft in Zweifel ziehen.

Später wurde eine neue Etappe eröffnet: Am 22. August 2018 fordert Carlo Maria Viganò, ehemaliger Nuntius des Vatikan in den USA, den Papst öffentlich zum Rücktritt auf. In seiner Qualität neu ist auch der Stil des Buches von Henry Sire, alias Marcantonio Colonna, der Mitglied des Malteser-Ordens ist: Der Diktatorpapst. Aus dem Innersten seines Pontifikats. Er erklärt den Papst mit zum Teil kruden Vorwürfen zum Diktator und Feind mindestens der Kirche des Westens. Ist die Kirche noch ein Hort des Friedens und deshalb glaubwürdige Friedensruferin? „In der Kirche herrscht ein Bürgerkrieg“, erklärt der Vatikankenner Marco Politi, und manchem erstarrt ob solcher Zustände das Blut in seinen katholischen Adern. Diese doch immer schon wohlgeordnete Schlachtreihe, auf Eindeutigkeit und hierarchische Strukturen bedacht, ausgestattet mit strengen Kontroll- und Zensurbehörden und immer darauf ausgerichtet, dass alle Uneinigkeit mit Hilfe hocheffektiver Kontroll- und Sanktionssysteme ausgerottet wird, sie entpuppt sich auch offiziell als die Brutstätte bitterster Grabenkämpfe, obwohl ihr Oberhaupt mit absolutistischen Vollmachten ausgestattet ist und sein Amt prinzipiell auf Lebenszeit antritt. Welchen Niedergang muss dieser international etablierte Machtapparat erlitten haben, wenn er beginnt, sich von der Spitze her zu zerfleischen!

Natürlich kennen wir auch die Gegengeschichte. Apostolischer Stuhl und Kurie waren noch nie Hochburgen des inneren Friedens. Die hochautoritäre Ausrichtung, die brutalen Macht- und Unterdrückungsgeschichten dieser Institution müssen hier nicht dargelegt werden. Auch sollte die Tatsache nicht verwundern, dass die Hüter römischer Handlungs- und Definitionsmacht auch heute noch mit harten Bandagen kämpfen, schließlich geht es noch immer um die effektive Führung und Bändigung einer hoch organisierten Institution mit 2,3 Milliarden Menschen. Aus diesen Mauern darf kein Stein, gar ein tragender Bogen herausgebrochen werden; die Folgen wären unabsehbar. Die Korrektheit von Struktur, Lehre und Recht hat unbedingte Priorität, nicht etwa Fragen und Situation von Menschen, die Kommunikation mit ihnen, auch nicht kulturelle Umbrüche, geschweige denn eine barmherzige Amtsführung, auch wenn der Papst sie einfordert. Seit 1870 ist das Lehrsystem zu einer unfehlbaren Betonburg verhärtet. Schließlich erinnern sich die Älteren unter uns daran, mit welch harten Bandagen die Verteidiger des römischen Systems auf dem 2. Vatikanischen Konzil ihre Interessen durchsetzten. Da wurde mehr als eine Intrige gesponnen, mit der Geschäftsordnung getrickst, manche Abstimmungsfrage manipuliert, einem Redner in der Konzilsaula auch mal das Mikrofon abgestellt. Man hat bei den Textredaktionen Kompromisse erzwungen, die im Grunde keine waren[1], und wenn die Erneuerer bislang an die Öffentlichkeit gingen oder eine Abstimmung erzwangen, war das Gezeter der Reaktionäre groß.

Vieles hat sich seitdem nicht geändert. Neu jedoch ist, dass der Papst aus diesem System ausbrechen will. Zum ersten Mal ist er keiner von ihnen, sodass sich jetzt die Brutalität des Macht- und Rechthaberkampfs auch gegen ihn richtet. Neu ist auch dies: Die katastrophalen und globalen, nie endenden Missbrauchsdiskussionen setzen das System selbst unter Druck.[2] Bischöfe und Kardinäle kommen in massive Probleme und die Glaubwürdigkeit ganzer „Landeskirchen“ ist dahin. Jetzt werden die Reaktionen, die Zuweisungen von Schuld und Motiven unberechenbar. Plötzlich zeigt sich, wie sehr sich die Konfliktebenen untrennbar vermischen: die Macht- und Lustpolitik, der Konkurrenz- und Corpsgeist, das Heilige und die körperliche Vitalität, die sich bei vielen Klerikern undiszipliniert austobt. Hätten sie sich doch wenigstens in erwachsene Frauen verliebt, möchte man sagen, statt sich an Kinder heranzumachen. Am Verstörendsten dabei ist die Tatsache, dass sich alles Interesse auch jetzt wieder um die Täter organisiert. Nur wenige nehmen die Situation der Missbrauchten wahr, obwohl doch deren Lebensweg oft irreparabel geschädigt wurde.

Wie können katholische Gemeinden und Reformgruppen darauf reagieren? Zunächst gilt es, abstrichlos zur Kenntnis zu nehmen, was ans Tageslicht kommt. Schlimmste Vermutungen haben sich bestätigt oder wurden übertroffen, die Bischöfe reagieren mit den bekannten Formeln der Empörung und des Selbstmitleids. Inzwischen wissen wir: In der Regel war unsere Hierarchiekritik zu zahm und zu zurückhaltend. Wir wollten mit den Herren in verbindlichem Kontakt bleiben, verziehen ihnen ihre selbstverliebten Inszenierungen und hofften, hier und da würde unsere Freundlichkeit mit zukunftsoffenen Entscheidungen belohnt. Wir schrieben Mahnungen und Petitionen, die auch die Öffentlichkeit erreichten. Doch hat diese Strategie des Brückenbaus schon lange ihre Grenze erreicht. Auch trotz der Klerikalismus- und Kurienkritik des Papstes und trotz seiner sympathischen Ausstrahlung bleibt das System verhärtet. So beschädigen die halbherzigen Diskussionen, die wir allenthalben führen, uns alle. Denn die außenstehenden Kritiker vermissen bei uns den Mut, aufs Ganze zu gehen. Am besten kommen noch diejenigen Gruppen weg, die sich nicht auf den Papst oder innerkirchliche Reformvorhaben konzentrieren, sondern unbeeindruckt vor Ort als Teile der Zivilgesellschaft ihre gesellschaftlichen Reformprojekte verfolgen. Ihnen geht es um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Vielleicht ist das die einzig wirksame Reformstrategie.

Was ist daraus zu lernen? Zumindest haben die Reformgruppen eine grundlegende Strategiedebatte zu führen. Die nachkonziliare Epoche ist endgültig vorbei, deren Reformpotential ausgeschöpft oder zerredet; vielleicht scheiterte das Konzil an seinen eigenen Kompromissen, die im Grunde oft nur Widersprüche verdeckten. Zur Debatte stehen das Konzept einer hierarchischen Kirche und deren (unvereinbare) Widersprüche mit den Herausforderungen, die uns eine hoch gefährdete Gegenwart stellt. Soll die Kirche zu einer hochgerüsteten, weltweiten sowie selbstgerechten Sekte werden oder zu einer Gemeinschaft von solchen, die sich einlassen auf die Utopie einer in Frieden und Gerechtigkeit versöhnten Menschheit?

II. Archaischer Männerbund

Die Gründe für diese Unbeweglichkeit sind vielschichtig. Vor wenigen Tagen fiel mir ein Artikel von Helmut Waldmann über Männerbünde in die Hände, vor 30 Jahren geschrieben und dennoch hochaktuell.[3] Er beschreibt diese Bünde als Elitegruppierungen mit einer sittlichen Ausnahmestellung und strengen inneren Gehorsamsstruktur, einer frauenfeindlichen Praxis und Mentalität, einem Lebensunterhalt aus Schutzgeldern und Steuern sowie mit dem Bewusstsein göttlicher Auserwählung. Lange galt das preußische Militär dafür als klassisches Beispiel, heute ist es der römisch-katholische Klerus, auch wenn seine Regeln in den untersten Rängen an Kontur verloren haben. Es geht, wohlgemerkt um eine sehr menschliche Gemeinschaftsform, auch wenn sie sich zur gottgewollten erklärt. Uns muss also klar werden, mit welch archaischen Kernstrukturen wir es beim römisch-katholischen Klerus zu tun haben: einem Club von Männern, die sich von Gott auserwählt wissen, sich nach außen abschotten und notfalls wie Pech und Schwefel zusammenhalten. Zugleich setzen sie einander unter psychologischen Gleichschaltungsdruck, verdrängen mehr oder weniger erfolgreich ihre Sexualität, erklären sich gegenüber weiblichen Irritationen für immun und stärken ihren Zusammenhalt durch eine uniformierte Kleidung und andere Symbole. Ihre persönliche Identität beziehen sie primär nicht aus ihren Idealen, sondern aus ihrer Gruppe, von deren Regeln sie sich dominieren lassen. Die Moderne hat diesen Rollenpanzer nicht aufgelöst, sondern eher verhärtet. Der glühende Konservatismus des vergangenen Papstes dient dafür als gute Illustration. Das Zusammenspiel der genannten Faktoren gibt diesem Bund eine äußerst zähe, undurchdringliche Stabilität. Sie ergänzen und bestätigen einander. Von persönlichen Rivalitäten lässt er sich nicht sprengen. Diese Lebensform hat verschiedene Sonderformen ausgebildet, etwa die der Orden und der offiziellen Hierarchie, die mit Erfolg einige historische Epochen durchlaufen und sich allmählich unangreifbar gemacht hat.

Besonders destruktiv wirkt sich die Kommunikationsstruktur der Hierarchie im Blick auf die Gesamtkirche aus. Sie räumt ihrem Insiderwissen, ihren eigenen Überzeugungen und Denkstrukturen unbedingte Priorität ein und fühlt sich gegenüber den unerleuchteten Vorstellungen der „Laien“ überlegen. Impulse von unten werden in die eigene Sprache übersetzt und damit entschärft. Das war auch während der Gesprächsprozesse der deutschen Bistümer (2011-2015) zu beobachten. Zu erkennbaren Ergebnissen haben sie nicht geführt, sogar der Begriff „Dialog“ wurde vermieden.

Bis heute können die Hierarchen nicht ermessen, welche Anmaßung und welches Maß an Gesprächsverweigerung in einem solchen Vorgehen steckten und welche undurchdringlichen Vertrauensbarrieren damit aufgerichtet werden. So waren die Bischöfe nicht etwa bereit, der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs aus ihren Archiven auch nur ein Dokument zur eigenen Auswertung auszuhändigen, als ob schon die Hände eines Laien diese Papier beschmutzen könnten. Mit unabhängiger Arbeit hat diese Bevormundung nichts zu tun und niemand weiß, wie viele interessante Informationen der Öffentlichkeit vorenthalten wurden. Bislang hat das noch kein Bischof bedauert und letztlich ist das aktuelle Gutachten wertlos. Ein letztes Misstrauen wird bleiben.

Deshalb lautet die Frage: Wie lange sind die Nichtkleriker noch bereit, die aufgerichteten Kommunikations-, Verstehens- und Vertrauensbarrieren zu akzeptieren? Repräsentiert dieser Männerbund wirklich die Gemeinschaft der katholischen Kirchenmitglieder? Ich persönlich kann das auch nicht mehr aus taktischen Gründen akzeptieren. Dabei interessiert mich nicht die persönliche Integrität der einzelnen Person, das sie sich mal so, mal anders zeigt, sondern der ungeheure Gruppen- und Mentalitätszwang, der die Bischöfe zusammenbindet. Gewiss, auf allen Ebenen sind starke Gemeinde- und Regionalleitungen sinnvoll, doch der aktuelle Männerbund, der sich selbst genügt, gehört ins Reich der vergangenen Geschichte. Mit ihm ist kein Gottesreich unterwegs.

Man könnte diese Analyse auch auf andere Eigenschaften ausdehnen, etwa auf den hohen Anpassungsdruck, dem die Mitglieder dieses Männerbunds ausgesetzt sind. In ihren Jahren der Ausbildung hat die kommende Elite enorme Verzichts- und Lernleistungen zu vollbringen. Sie führen später zu unbewusster, also unverbesserlicher Rechthaberei. Die stets gebotene Korrektheit in Sachen Institution Wahrheit und Recht führt zu Kommunikationsstörungen nach außen. Natürlich sehen sich Bischöfe und Priester im Dienst der Menschen; das würden sie immer behaupten. Doch seit Konzilszeiten scheiterte siebenmal der Versuch, als Basis des Kirchenrechts ein „Grundgesetz“ (lex Eccesiae fundamentalis) zu etablieren, das von den Menschenrechten ausgeht. Rechtssystematisch steht die jüngste Verurteilung von Missbrauch heute ortlos neben dem Verbot, die Beichte zu entehren und die Eucharistie zu schänden. „Schutz der Heiligkeit der Sakramente“ lautet die gemeinsame Überschrift. So ist die Schändung der Betroffenen noch immer nicht im Blick; die Ablenkung von den Tätern funktioniert noch immer. Man sorgt sich um die Heiligkeit der Institution. So schämt sich etwa Kardinal Woelki neuestens für seine Kirche. Wieso eigentlich? Er sollte sich für seine kriminellen Mitkardinäle, Mitbischöfe und Mitpriester schämen, deren Namen er wohl großenteils kennt.

Aus diesem Narzissmus ergibt sich eine massive Intransparenz, denn jede Öffnung wird als mögliche Bedrohung der eigenen Würde erfahren. Von welcher absurden Berührungsangst werden die Herren getrieben, von welcher Geringschätzung aller, denen die Würde ihres Besonderen Priestertums nicht zuteil wurde?

Verständlich ist auch, dass man sich mit wachsender Modernisierung der Gesellschaft auf die Vergangenheit fixierte. Hier und dort werden geheiligte Traditionen kreiert, wo sich ein ganz normaler Gewohnheitstrieb durchsetzte. Man geniert sich nicht einmal, wenn man beim Ordinationsverbot von Frauen auf die Männlichkeit Jesu verweist. Hinzu kommt, wie schon angedeutet, eine Frauen-, Homo- und Sexualphobie, die den Zölibat preist, sich dennoch gewaltig für Sexual- und Eheangelegenheiten interessiert. Die grausamen Folgen erkennen wir in der Epidemie des grassierenden Missbrauchs durch Priester.

Diese Fehlentwicklungen ließen sich vielleicht besser überwinden, wären all diese Untugenden und verzerrten Verhältnisse nicht durch die Weiheideologie sakralisiert, die in aller Form feststellt: Zwischen Priestern und anderen gebe es nicht nur einen graduellen, sondern einen Wesensunterschied, der sich nie mehr aufheben lässt. Die Priester gelten als geheiligte Personen. Papst Franziskus spricht von einem narzisstischen Klerikalismus. Er müsste hinzufügen: dieser Narzissmus wird theologisch durch die Lehren von sakramentaler Vollmacht, apostolischer Nachfolge und einer Stellvertreterschaft Christi unterfüttert. Die Fixierung des Kirchenbildes auf Sakramentalität und Eucharistie hat in den letzten Jahrzehnten einen ungeahnten Höhepunkt erreicht. Man hält daran fest, obwohl deren biblische und historische Unhaltbarkeit schon lange feststeht.

III. Die Herausforderung an den Papst

Die zunehmende Sakramentalisierung und die wachsenden Zerwürfnisse gehen Hand in Hand. Niemand von uns möchte in der Haut von Papst Franziskus, diesem sympathischen, weil empathischen Mann stecken. Was in Sachen Missbrauch auf ihn zukam, konnte er nicht voraussehen; er scheint umso verletzlicher zu werden, je intensiver und offener er sich dieser weltweiten Seuche annimmt. Bislang habe ich nur Priester und Bischöfe erlebt, die schwiegen oder sich von solchen Untaten in gemessenen, schriftlich vorformulierten Worten distanzierten. Ansonsten wird bürokratisch gehandelt, ein Geldbetrag erstattet, die Verwundung an Profis delegiert. Nun erleben wir bei Papst Franziskus zum ersten Mal, wie ein hochrangiger Kirchenmann sein Verhalten offen revidiert, seine Gefühle nicht verbirgt, Irrtümer eingesteht und ansonsten zu erkennen gibt, wie er allmählich zur Linie der Null-Toleranz gefunden hat. Doch er hat nicht nur Freunde: Am 22. August versucht der Exdiplomat Carlo M. Viganò, den Papst an früheren Schwächen zu packen; wider besseres Wissen habe auch er einen Kardinal mit massiven Verfehlungen im Amt belassen; deshalb fordert er den Rücktritt des Papstes.

Ob diese Vorwürfe stimmen, kann man noch nicht sagen; der Brief lässt nicht nur edle Motive des Anklägers vermuten.[4] Dennoch könnte ich mir vorstellen, dass der Papst, bekennender Freund der Transparenz, diesen kritischen Augenblick als Chance zu einem offenen Gespräch ergreift. Vielleicht kann er berichten, wie er allmählich zu seiner heutigen eigenen Position gefunden hat. Vermutlich hat er schon als junger Jesuit das eine oder andere Gerücht gehört und wie viele andere weggehört, später aus Gründen des guten Rufs oder des inneren Friedens ein Auge zugedrückt. Vielleicht hat er als Bischof Mitbischöfe und Priester dann intern gemahnt und die Akten unter strengem Stillschweigen pflichtgemäß nach Rom geschickt. Vielleicht hat er bisweilen auf die falschen Menschen gehört; natürlich war er als frisch amtierender Papst auf zahllose Informationen durch Dritte angewiesen, was sein Handeln verletzlich machte, bis ihm aufging, wie oft er hinters Licht geführt wurde und was diese Schandtaten für die Missbrauchten bedeuten. Vielleicht könnten ihm andere Bischöfe und Priester darin folgen, gleich, ob sie die Taten ausführten oder duldeten.

Noch einmal, dieses Szenario entspringt meiner Phantasie. Doch ich sehe keinen anderen Weg, der wirkliche Versöhnung in die Wege leiten kann. Wir brauchen in Deutschland und den USA, in Irland, Chile, Australien und Belgien, den Niederlanden und in anderen Ländern Wahrheitskommissionen, in denen um Vergebung gerungen wird. Es müssen Kommissionen sein, in denen die Betroffenen selbst zu Wort kommen, ihre Schmerzen loswerden und ihre Wut hinausschreien können. Die Täter müssen dies ertragen und ihre Taten eingestehen. Vorher wird es zu keinem Frieden kommen. Zudem wird der Papst nicht nur pastoral, sondern auch theologisch zu einer eindeutigen Linie finden müssen. Auch er muss die Schrift und die große Geschichte der Kirche ernst nehmen und den willkürlichen Sakramentalismus überwinden, den er vermutlich von Henri de Lubac übernommen hat. Andernfalls bleibt er angreifbar.

IV. Die Erwartungen an die Gemeinden

Bislang wurden die Gemeinden zu den erschütterten Zeugen eines Schauspiels, das sie nicht für möglich gehalten hätten. Angesichts dieser Empörung besteht die Gefahr, dass auch sie sich mit den Tätern und kaum mit den Opfern beschäftigen. Wer spricht von ihnen und wer weiß, wie viele Betroffene in ihren eigenen Reihen und in ihrem Sozialraum leben? Auch hat sich noch niemand die Frage gestellt: Warum richteten kirchlich engagierte Männer und Frauen vor Ort keinen Schutzschild vor dem netten Kaplan und dem leutseligen Pfarrer, dem so freundlichen Seelsorger auf? In zahllosen Fällen, sei es in Gemeinden oder in Internaten, kann ich kaum glauben, dass niemand Verdacht schöpfte und reagierte. Auch in ihnen gab es eine Kultur des Wegschauens und der sublimen Duldung nicht nur von oben, sondern auch von unten. Es war Folge einer unmündigen Pfarreikultur, in der die gehorsamen Schäfchen den Ton angaben.

Deshalb müssen auch die Gemeinden endlich mündig werden. Sie haben ihre Seelsorger, ihre Kitas und Ministrantengruppen zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass nichts unbeobachtet bleibt. Seelsorger sollen nach Möglichkeit im Team, unbedingt unter Beteiligung von Frauen arbeiten. Ansonsten lassen sich einfache Schutzregeln aufstellen. Wie ich es auch von Universitäten kenne, werden bei persönlichen Gesprächen mit Abhängigen Türen nicht ganz geschlossen und Kollegen können eintreten, ohne anzuklopfen. Kinder haben in den Privaträumen der Seelsorger nichts zu suchen und die Beichtpraxis lässt sich so organisieren, dass sich zum Missbrauch keine Gelegenheit bietet. Vor allem muss sich in jeder Gemeinde und Gemeinschaft ein unabhängiges[!] Kontrollteam bilden.

Das hat nichts mit Misstrauen, aber viel mit einer Atmosphäre der Sicherheit zu tun, die viele Eltern mit Dankbarkeit zur Kenntnis nehmen. Auch den Seelsorgern gibt diese Kultur von gegenseitiger Transparenz ein Gefühl des Vertrauens.

Ebenso wichtig ist eine praktizierte und immer fühlbare Solidarität mit den Betroffenen. Sie müssen in der Gemeinde ihren Ort, ihre Ansprechpartner oder eine Selbsthilfegruppe finden können, deren Existenz in der Öffentlichkeit bekannt ist. Betroffene haben das Recht, in den Gemeinden gehört, unterstützt und nach Möglichkeit integriert zu werden; eine professionelle Hilfe muss verfügbar sein. Dabei muss klar sein, dass ein solcher Umgang mit Traumatisierten nicht einfach ist und mit höchster Sensibilität zu geschehen hat. Robert Plum hat dazu wichtige Hinweise gegeben.[5] Was er zum Umgang mit den Opfern des Holocaust darlegt, lässt sich auf den Umgang mit den Missbrauchsopfern übertragen. Die Begleiter und Mitglieder solcher Gruppen müssen in erster Linie hörbereit, keine Künstler der Verteidigung und schlüssigen Antworten sein. Sie müssen genau auf die Grenze von Reden und Schweigen achten, auch das Unsagbare zur Kenntnis nehmen. Trotz aller Empathie dürfen sie nicht so tun, als seien ihnen die Erfahrungen der Opfer nicht neu, weil sie sich gut einfühlen können, oder als könnten sie kraft ihres christlichen Glaubens damit problemlos umgehen, weil schon alles Leiden im Leiden Christi aufgehoben ist. Zugleich müssen sie fähig sein, das Schicksal der Betroffenen als ein unter ihnen gemeinsames und soziales Leiden zu erkennen, das durch inhumane hierarchische Strukturen ermöglicht, wenn nicht gar provoziert wurde. Die Aufgabe derer, die sich in solchen Gesprächsgruppen engagieren, wäre „auch als Aufforderung zu verstehen, den Opfern dabei zu helfen eine Sprache und eine Stimme zu entwickeln, damit das Sprachlose, Unsagbare sagbar wird. Dass das angeblich Sprachlose und Unsagbare dieser Erfahrungen auch die Machtstrukturen einer Gesellschaft spiegelt, macht das Verleihen von Sprache und Stimme zu einer politischen, diskursiven Praxis.“[6]

Wie viele Betroffene sich da wirklich zusammenfinden, ist ein sekundäres Problem. Zwang und Erwartungsdruck sind fehl am Platz. Wichtig ist dagegen die Bereitschaft, zusammen mit den Betroffenen und unter ihrer Inspiration zu einem Schutzschild für solche zusammenzuwachsen, die möglicherweise gefährdet sind. Das Prinzip der Anonymen Alkoholiker muss gelten: die Gefahr ist nie überwunden. Nur so können die Gemeinden auf Grund ihrer eigenen Mündigkeit dauerhafte Immunkräfte entwickeln.[7]

Wie kann all das gelingen? Wie wir sahen, muss dabei Vieles zusammenkommen und klar muss uns werden, dass wir die Frage nach einer mündigen Gemeinde allzu lange nur theoretisch besprochen haben. Inzwischen hat dieser Männerbund, genannt Hierarchie, in jeder Kirche seine Glaubwürdigkeit verspielt. Die aktuellen Strukturen sind nicht nur unbiblisch und ineffektiv, sondern verurteilungswürdig, in ihren Auswirkungen inhuman. Deshalb ist die aktuelle Struktur nicht mehr zu dulden. Grundsätzlich sind die aktuellen Hierarchien für ihre konkreten Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen und einer vorbehaltlosen Partizipationsregel zu unterwerfen. Gegebenenfalls wird mit einem gewissensgeleiteten Ungehorsam zu reagieren sein.

V. Was zu geschehen hat

Unter dieser Voraussetzung sind also Erstmaßnahmen unabdingbar; sie dulden keinen Aufschub, denn nur unter ihren Bedingungen lässt sich eine Kultur des innerkirchlichen Friedens einleiten:

  1. Die Abschaffung des Pflichtzölibats und das Ja zur Ordination von Frauen, die ihnen prinzipiell eine legitime Gemeindeleitung (und damit den Vorsitz in der Eucharistie) ermöglicht. Es gibt kein einziges Argument, das gegen diese Reformen spricht.
  2. Die Einführung demokratischer Verhältnisse. Bischöfe und Pfarrer sind ‑ nach Maßgabe bestimmter Regeln ‑ zu wählen; unter bestimmten Bedingungen können sie abgewählt werden. Dasselbe gilt für die Vorsitzenden der nationalen und regionalen Bischofskonferenzen, denen ihrerseits bei der Papstwahl ein Mitspracherecht einzuräumen ist. Auch alle anderen Gremien sind auf demokratische Beine und unter demokratische Kontrolle zu stellen. Da auf allen Ebenen sinnvolle Gremien eingerichtet sind, lässt sich diese Umstellung mühelos regeln.
  3. Kraft ihrer charismatischen Kompetenz können die Gemeinden die Feier der Gottesdienste und die Gestaltung der Pfarrgemeinde in eigene Hände nehmen, falls die offiziellen Zuständigkeiten und Regeln versagen. Die klassische Seelsorge ist am Zusammenbrechen, sodass dieser Fall öfter eintritt als uns lieb sein kann.
  4. Der römische Katholizismus transportiert viele seiner Inhalte und Überzeugungen über Zeichen und Symbole. Deshalb hat eine neue Kultur bescheidener Selbstdarstellung zu beginnen. Ich plädiere dafür, dass die hierarchisch-feudalen Hoheitszeichen wie Wappen, Stab und Ring, feierliches Brustkreuz, Mitra und Pallium abgeschafft werden, das eitle System der Farbschattierungen von Purpur bis Zinnoberrot und sonstige Uniformen, die ohnehin oft der Lächerlichkeit preisgegeben sind. Feierliche Kleidung ist streng auf den Gottesdienst zu beschränken, schließlich sind wir alle mündige Christen.
  5. Deshalb brauchen wir auch keine Kurie von Erzbischöfen und Kardinälen, sondern von effektiven Funktionsträgern, so wie wir gute Gemeindeleiterinnen und Gemeindeleiter, nicht den Priester an sich brauchen. Wer von seinem Amt zurücktritt, verliert die entsprechenden Privilegien (Würde, Anrede und Kleidung). Das gilt auch für einen emeritierten Papst.
  6. Viele dieser biblisch begründeten Forderungen werden in nicht-westlichen Ländern vielleicht als weniger dringend empfunden. Deshalb kann die genauere Erfüllung der Forderungen in die Hände der nationalen Bischofskonferenzen gelegt werden. Für unseren Kulturkreis ergeben sie sich zwingend, wenn wir den Sumpf der Missbrauchskultur austrocknen wollen. In allen anderen Kulturen sind die Männerbündischen Unarten ebenfalls zu beenden. Denn eine Atmosphäre, in der für Missbrauch nach wie vor Tür und Tor geöffnet sind, hat von der christlichen Barmherzigkeit nichts gelernt.

Anmerkungen

[1] Zahllose Hinweise und Informationen bietet das Buch von Otto H. Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, Vorgeschichte ‑ Verlauf ‑ Ergebnisse ‑ Wirkungsgeschichte, Kevelaer 2011.

[2] Zu den Hintergründen: Hermann Häring, Sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche. Bedingungen sexueller Gewalt in der katholischen Kirche. Zur Erneuerung von Strukturen und Köpfen, Klöcker/Tworuschka, Handbuch der Religionen I – 14.6.2.3, 26. EL, 1-21; ders. und Anne Dyer, Sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche. Zur Situation der Täter und ihrer Opfer, ebd. 14.6.2.1, 26. EL, 1-22.

[3] Helmut Waldmann, Männerbünde, in: V. Drehsen u.a., Wörterbuch des Christentums, Gütersloh/Zürich 1988, 763f.

[4] Wie man auch Viganòs einzelne Vorwürfe beurteilen mag. Aufs Ganze gesehen lassen sie auf ein unübersehbares Netzwerk von sexuellen Übergriffen erkennen, in das u.a. zahllose Kardinäle und Bischöfe verstrickt sind. Man kann nur hoffen, dass dieser „stinkende Sumpf“ trockengelegt und die „omertà“, die sich darüber ausbreitet, beendet wird.

[5] Robert Plum, Leiden zur Sprache kommen lassen. Notizen über Leiden und Sprache anhand von „Sozialem Leiden“ und „Traumatheorie“, in: Ursula Roth, Jörg Seip, Bernhard Spielberg (Hgg.), Geforderte Rede. Konstellationen, Kontexte und Kompetenzen des Predigens. Ökumenische Studien zur Predigt, Bd. 11, München 2018, 93-110.

[6] Ebd. 110.

[7] Zum Gesamtproblem: Geoffrey Robinson, Macht, Sexualität und die katholische Kirche. Ein notwendige Konfrontation, Frankfurt 2010. Inzwischen hat Robinson sein Amt als Weihbischof zur Verfügung gestellt.