Laien – Bedrohung des autoritären Systems?

Vorbemerkung:
Die prekäre Stellung der nicht-ordinierten Mitglieder der römisch-katholischen Kirche ist das Ergebnis einer langen und vielschichtigen Entwicklung. Es ist an der Zeit, dieses Relikt einer autoritären Ära seinem Verfall preiszugeben. Mehrere Faktoren, die einander ergänzen und stabilisieren, tragen dazu bei. Zur Diskussion steht innerhalb dieser Kirche die Lage einer überwältigenden, aber niedergehaltenen und zum Schweigen verurteilen Mehrheit. Nur in dem Maße, in dem wir das Zusammenwirken dieser Faktoren durchschauen, können wir der Gesamtsituation ihren zwingenden Charakter nehmen. Im Interesse der Zukunft der katholischen Kirche ist dies notwendig.

Auf Grund ihrer überwältigenden Mehrheit, ihrer breit gestreuten Erfahrungen, ihrer theologischen und geistlichen Kompetenzen sind die Mitglieder der katholischen Kirche – bei entsprechender Entschlossenheit und Geschlossenheit – imstande, autoritäre Kirchensysteme zu entmächtigen und aufzubrechen. Die Stärke des Gesamtsystems, das sich römisch-katholisch nennt und von Papst und Bischöfen repräsentiert wird, lebt von der hingenommenen Schwäche derer, gegen die es sich ausgebildet und verhärtet hat.
In einem ersten Schritt müssen sie sich in Gewissen und Mentalität aus den ideologischen Selbstbeschränkungen befreien, in die sie das aktuelle Kirchensystem durch Struktur, Verkündigung und alltägliche Praxis eingebunden hat.

I. Zur komplexen Entwicklung der römischen Kirchenstruktur

1.0 Vorbemerkungen:

Im 20. Jahrhundert hat die strukturelle Zweiteilung der Kirchenorganisation in Kleriker und „Laien“ einen Höhepunkt, d.h. einen Grad der Formalisierung und Totalisierung erreicht, in denen die inneren Widersprüche dieses Dualismus nur noch zur Selbstzerstörung führen können. Unbemerkt hebt sich dieses System auf. Symptome dafür sind:
– der Abbruch christlicher Traditionen in unserer Kultur (vgl. Sinusstudie 2007),
– der Zusammenbruch der klassischen Seelsorge,
– das zunehmend autoritäre, polarisierende, geradezu abstoßende Verhalten von Kirchenleitungen,
– die von Rom aus initiierte Kultur des grundsätzlichen Misstrauens gegenüber kreativem Denken und Handeln in Theologie, Seelsorge und Diakonie,
– der massive Einfluss rechtsextremer Gruppen auf die Kirchenleitungen,
– der gravierende Vertrauensverlust durch Missbrauchs- und Vertuschungsskandale,
– das öffentliche Echo auf die offensichtlichen internen Missstände in der römischen Kurie (Finanzgebaren, Vatileaks).
Dabei kann offen bleiben, ob diese Selbstzerstörung die katholische Kirche zu einer Erneuerung ihrer Identität oder in eine fundamentalistische Sekte führt.

In welchem Sinn soll die katholische Kirche erneuert werden und was in ihr hat eine Grundsanierung verdient? Auf keinen Fall sollten wir den trügerischen Denk- und Sprachegewohnheiten folgen, die das Wort „Kirche“ ohne weiteres mit dem römisch-katholischen Macht- und Repräsentationsapparat identifizieren. Wenn ich hier von „Kirche“ rede, meine ich prinzipiell und umfassend das „Kirchenvolk“, faktisch die gesamte Gemeinschaft von Glaubenden, die in der Nachfolge Jesu stehen will und sich als römisch-katholische Kirchengemeinschaft identifizieren lässt.

Aus jesuanischer Perspektive füge ich hinzu: Dieser Gemeinschaft der Nachfolge kommt keinerlei Selbstzweck zu; sie dient ausschließlich dem Reich Gottes, das uns in der Welt nahegekommen ist.

Aus neutestamentlicher (insbesondere paulinischer) Perspektive füge ich hinzu: Innerhalb dieser Glaubensgemeinschaft spielen Strukturfragen, Leitungs- und andere Ämter nur eine sekundäre, eine streng dienende Rolle, die funktional und pragmatisch zu regeln sind. Wer den Zusammenbruch des aktuellen Struktursystems voraussagt, tut dies nicht im Sinne einer Katastrophe, sondern einer Erneuerung dieser Kirche.

In der römisch-katholischen Kirche vollzieht sich im Augenblick ein Vorgang, den Hegel als die Dialektik von Herr und Knecht [sagen wir: von Amtsträger und „Laie“] beschrieben hat: Wer sich Knechte anstellt und sie nur noch leitet, indem er sich ihnen überordnet, sie also belehrt und ihnen befiehlt, begibt sich langfristig in deren Abhängigkeit. Denn die Knechte lernen es, vor Ort zu arbeiten, sie stehen in Kontakt mit der Wirklichkeit und sie wissen mit den Risiken des Lebens lebensnah umzugehen, werden deshalb auch zu Spezialisten der Revolution.

Nach Hegel scheint zunächst der Herr im verdienten Vorteil zu sein. Denn er setzt sich deswegen durch, weil er keine Furcht davor hat, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Der Knecht dagegen wird zum Knecht, sobald er sich für das Leben entscheidet (also dieses Lebensrisiko nicht eingeht). Man kann durchaus das neutestamentliche Bild der „Jünger“ heranziehen, die Jesus auf Schritt und Tritt folgen. Aber im alltäglichen Umgang zwischen Herrn und Knecht erwirbt sich der Knecht entscheidende, für das Überleben des Herrn wichtige Fertigkeiten, ohne die auch die Herren nicht überleben könnten. Die Stärke des Christentums wird ja nicht an der Zahl der Bischöfe, sondern der Kirchenmitglieder gerechnet. Faktisch hängt die Weitergabe der christlichen Erinnerung und Lebenspraxis also von den Knechten/„Laien“ ab. Deshalb ist der Knecht/„Laie“ von seinem Herrn/Kirchenleitungen nur bis zu dem Augenblick abhängig, da der Knecht/„Laie“ sich seiner Bedeutung bewusst wird, also seine Macht begreift. Die Zeit zum Umkehrung der Verhältnisse ist reif. In Hegels Augen war und ist das die Grundlage der Revolution.

Die Herrschenden berufen sich auf einen höchst achtbaren Beginn; das ist nicht zu bestreiten. Die ersten Zeugen haben ihr Leben aufs Spiel gesetzt und sich damit den Respekt der vielen Mitläufer gewonnen, die es auch schon am Anfang gegeben hat. Sie haben sich dadurch eine tief empfundene Autorität erworben, die man auch lange tradiert hat, aber inzwischen zur romantischen, entmündigenden und entleerten Gewohnheit verkommen ist. Denn die Kirche hätte nie und nimmer ohne die Zahllosen überlebt, die ihr durchaus weltliches Leben – aus welchen Motiven auch immer – als Christinnen und Christen lebten, die Welt kulturell und politisch gestalteten und so für ein lebbares Leben mitsorgten.

In verschiedenen Konzilstexten kommt dies klar zum Ausdruck, auch wenn am autoritären Herr-Knecht-Verhältnis noch kaum gerüttelt wird; genauer gesagt: auch wenn die lebenswichtigen Impulse für eine Neubestimmung immer wieder relativiert werden. Schon ein oberflächlich pauschaler Vergleich des aktuellen Islam mit dem aktuellen westlichen Christentum kann zeigen, wie sehr die vitale Dialektik zwischen Klerus und „Laien“tum in früheren Jahrhunderten die Kirche immer wieder belebt hat, auch wenn dies der offizielle Kirchenapparat immer wieder verdrängte. Man denke nur an die fruchtbaren Spannungen zwischen imperium und sacerdotium, an die fruchtbare „Laien“spiritualität der devotio moderna oder an die enormen Aktivitäten des „Laien“apostolats im 20. Jahrhundert.

Ich fürchte, dass die gegenwärtige Kirchenleitung – ausgerechnet in der nachkonziliaren Periode – diese fruchtbare Dialektik zerschlägt, weil sie die „Laien“ endgültig zu Befehlsempfängern degradiert. Doch bei genauerem Nachdenken frage ich mich auch, worin denn diese Dialektik eigentlich bestand, die sich immerhin bis heute halten konnte. Hat sie genuin christliche, vielleicht biblische Gründe? Handelt es sich überhaupt um eine Dialektik, wie sie Hegel verstand? Mit einer historischen Rekonstruktion der Laienfrage kommen wir den Zusammenhängen und den Rettungswegen näher.

Ich greife im Folgenden vier zentrale Aspekte heraus, weiß aber, dass ich damit andere wichtige Aspekte vernachlässige und auch die vier zu nennenden nur pauschal zusammenfasse.

1.1 Sakralisierung der Kirchenwirklichkeit: Heilige und Profane

In der Regel und mit gutem Grund assoziieren wir Religionen mit der Erfahrung und der Feier des Heiligen. Gott erscheint als das „erschreckende und faszinierende Geheimnis“ (mysterium tremendum et fascinosum, R. Otto). Religiöse Handlungen und Worte, Hoffnungen und Ängsten drehen sich um das göttliche Geheimnis, das uns in verschiedenster Weise begegnen kann. Deshalb gehören zu den Religionen auch Priester und zentrale Vollzüge; in der Kirche aber spielt die Feier der Sakramente eine wichtige Rolle.

Wie Sie wissen, ist diese Formel für die klassischen monotheistischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam, auch Buddhismus) zu einfach. Die jüdisch-christlichen Ursprünge sind zutiefst prophetisch und „säkular“, nämlich von der Frage nach Gerechtigkeit und gerechtem Handeln bestimmt. Das Judentum war ohne Tempel überlebensfähig, und der Islam kennt im gängigen Wortsinn keine sakralen Vollzüge. Jesus war ein Mann des Wortes und der Taten, gerade kein Priester; mit Tempel und kultischem Opfer setzt er sich recht kritisch auseinander. Erste Anhaltspunkte zur Sakralisierung finden sich dann in der hellenistisch geprägten Wort- und Symbolwelt des Paulus; nur in Ansätzen mag man sie in der Grundstruktur des Abendmahls finden. In beiden Fällen ist der abgeleitete Charakter des Sakralen offenkundig, sie sind auf ihre vor-sakralen Gründe hin voll transparent.

Damit wird die Erfahrung des Heiligen nicht ausgeschaltet, aber – darauf kommt es hier an – auf seinen elementaren Grund zurückverwiesen. Denn gut biblisch lässt sich das Heilige nicht verorten, gar isolieren oder als Privileg ausmachen, es ist ein unverfügbares Ereignis. Die berühmte und für die reformatorische Tradition höchst wichtige Stelle 1 Pt 2,4-10 bringt dies klar zum Ausdruck: Die sakralen Ehrentitel der hebräischen Schriften werden klar und konsequent auf alle Christen bezogen: Alle Getauften sind lebendige Steine, alle eine heilige Priesterschaft, alle ein auserwähltes Geschlecht, alle ein heiliger Stamm. Alle sind sein Eigentum, „damit ihr die großen Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat“. Ähnlich wie im Hebräerbrief wird nicht die Überhöhung, sondern die Beendigung des speziellen, vermittelnden, auf Opfer und Gebet spezialisierten Priestertums angekündigt. Dasselbe Motiv findet sich in der Tauf- und Pfingsttheologie, also im Glauben an die Ausgießung des Geistes über alle Getauften. Aus demselben Motiv lebt die Charismenlehre des Paulus, der die Legitimation zum Dienst an der Gemeinschaft von keiner Weihe abhängig macht, sondern von einem pragmatischen Prinzip: vom faktischen Wohl dieses Dienstes für die Gemeinschaft. Damit liefert er das Amtsverständnis keinem oberflächlichen Pragmatismus aus, den tiefere Begründungen nicht interessieren. Er setzt vielmehr voraus, dass die Beziehungsfähigkeit zum Heiligen, dass das „Geheiligtsein“ unterschiedslos zu allen Getauften gehört.

Das ist Ihnen nicht neu. Aber verlorengegangen ist das Gespür dafür, wie grundlegend sich dieser ur-biblische Gedanke vom Geheiligtsein aller unmerklich und bald verändert hat. Wie und warum? Meine historische Vermutung lautet: Es war der Druck der sakralen bzw. der sog. Mysterienreligionen im hellenistischen Raum, der zu einer ersten Verdinglichung des Sakralen führte. Das lässt sich schon in der Metaphorik spüren, die Paulus bei seinem Nachdenken über das Abendmahl einführt: Es erscheint als ein heiliges Geheimnis, indem wir zu einem Leib in Christus begraben werden, um mit ihm aufzuerstehen. Und man wundert sich nicht, dass sich das christliche Kultverständnis bald dem anderer gegenwärtiger Religionen angleicht: Wer die heiligen Geheimnisse vollzieht, erscheint bald als die unberührbare, „geweihte“, also als eine heilige Person. Davon ist im Neuen Testament (Paulus eingeschlossen) noch nichts zu spüren. Für Paulus sind noch alle Gemeindeglieder „die Heiligen“. Gewiss mag die beschriebene Entwicklung verständlich sein. Das Christentum hatte gegen eine sakral geprägte und eine sakral empfindende Umwelt ein Gegengewicht zu setzen. Also konnte die Botschaft lauten: Bei uns sind die wahren Priester, bei uns wird der wahre Kult gefeiert. Aber diese Botschaft blieb auch noch bestehen, als der Gegenpart der Mysterien- und Opferreligionen verschwand. Spätestens dann, also in der ausgehenden Spätantike, hätte klar werden müssen: Diese unbiblische Idee von Kult und Priester hat dem Bewusstsein vom Gemeinsamen Priestertum nicht nur etwas hinzugefügt, sondern dieses von Grund auf verändert, in etwa verfälscht. Denn diese Idee belässt den Gläubigen in der Praxis nur noch eine abgeleitete, eine sekundäre Heiligkeit, auch wenn theologische, kirchenoffizielle und konziliare Texte eine andere Sprache sprechen. Offiziell geltende Strukturen und die kirchenpraktische Erfahrung erweisen sich als weit mächtiger.

Ich übergehe weitere Schritte, die zur gegenwärtigen Kirchenwirklichkeit geführt haben. Man könnte die Entwicklung unter dem Titel: Verdinglichung, Isolierung und Verfügbarkeit des Heiligen beschreiben. So wurde im ersten Jahrtausend die Kirche „Leib Christi“ genannt, während mit „mystischer Leib Christi“ das eucharistische Brot gemeint war. Später hat sich die Sprechweise exakt umgedreht; man wollte im Brot jetzt direkt Christi Leib sehen (vgl. eucharistische Frömmigkeit und Fronleichnamsfest) und der Sinn dafür, dass sich das Heilige in der „Gemeinschaft der Heiligen“ ereignet, verschwand. In vergleichbarer Weise wurde bis weit ins Mittelalter hinein der Auferstandene nicht leiblich dargestellt; in der Regel sah man das geöffnete Grab mit den Engeln. Diese Leere, dieses unfassbare Geheimnis hielt man später nicht mehr aus: seitdem wird der „Verklärte“ wie selbstverständlich sichtbar-leiblich dargestellt, obwohl ihn niemand gesehen hat.

Heute scheinen die Kirchenleitungen und ihre Theologen allzu genau zu wissen, was das Heilige ist. Zu schnell scheiden sie alle „profanen“ Erfahrungen aus (Begegnungen mit Menschen, Erfahrungen der Liebe, Herausforderungen durch Katastrophen und Not). Zu schnell beschränken sie sich auf die Sakramente und beginnen zur Beschreibung des Heiligen bei sich selbst. Heute gehört das Sakrale zu den Kernbestimmungen des geweihten Klerikers; ihn umgibt die Aura des objektiv Heiligen und diese Aura bildet das stabilste Motiv für das Zölibatsgesetz. Aus dem Schock der Missbrauchs- und Vertuschungsaffären hat man keinerlei Folgerungen gezogen. Der Priester handelt, wie wir ständig hören, in einem exklusiven Sinn, nämlich „in der Person Christi“ (dies gilt für alle Getauften oder ist eine blasphemische Behauptung), und Papst Benedikt kann sich nicht genug darin tun, diesen heiligen Schein zu betonen, alles auf ihn zu reduzieren und uns den Pfarrer von Ars ein fragwürdiges Symbol vor Augen zu führen. Dabei bildet die Ehrfurcht vor dem heilig-priesterlichen Mann eine archaische, vielerorts noch ungebrochene Stütze des dualen Systems.

Mit diesem Gegenpart zur biblischen Heiligkeitsidee, also mit der Verdinglichung und Überhöhung des Sakralen in priesterlichen Personen beginnt die Mangeldefinition des normalen Christen, eben des „Laien“. Ihm fehlt schlicht die Aura das Sakralen, von dem wir – wie die Theologie noch immer behauptet – alle abhängig sind. Und diese Behauptung bleibt immer noch wirksam, weil uns der Sinn für unsere prophetischen Wurzeln, für die jesuanische Kultkritik, für den unverfügbaren, sakral und profan überschreitenden Ereignischarakter des Heiligen verlorengegangen ist. Nach christlichen Maßstäben gibt es unter Christen keinen Mangel. So gibt es auch keinen Grund, sogenannten Priestern eine Vollmacht zuzugestehen, die im Prinzip nicht jeder Gemeinde zusteht. Ein gesundes kirchliches Selbstbewusstsein ist ohne die Entmythisierung archaischer Priesterverehrung nicht möglich.

1.2 Feudalisierung der Kirchenpolitik: Hirten und Herde

Doch damit stehen wir erst am Anfang der Entwicklung. Denn heute kann kein Mensch die Frage beantworten: Wie hätte sich diese Sakralisierung des Bischofsamts entwickelt, wäre es nicht im 4. Jahrhundert (also in der Epoche von Konstantin bis Theodosius mit den staatsrechtlichen Eckdaten 313 und 380) zur Volks- und Staatskirche gekommen? Aus historischer Perspektive kann ich die damaligen Veränderungen nicht angemessen beurteilen. Aber unbestritten ist, dass sich das Bild von Kirche und Glauben dadurch tiefgreifend veränderte. Im vierten und fünften Jahrhundert kommt es zur Verquickung von innerkirchlicher Autorität und einer staatlichen Macht, die naturgemäß auf Gesetz, Gewalt und souveränes Handeln gegründet war. Glaubenssätze wurden zu Reichsgesetzen, Bischöfe – verkürzt ausgedrückt – zu Staatsbeamten. Darauf war die Gemeinschaft der Christen kaum vorbereitet. So formte dieser unerwartete Machtzuwachs unbemerkt nicht nur das Amtsgehabe der Hierarchie, sondern auch die Selbstdarstellung, die Spiritualität und die Theologie der folgenden Jahrhunderte um. Machtdenken ist in christliches Denken als prägendes, unkritisch akzeptiertes Merkmal eingegangen.

Zu denken gibt jedenfalls, dass der bischöfliche Purpur bis heute – noch weitgehend unreflektiert – von dieser Verquickung zeugt. Außer dem „Katakombenpakt“ kenne ich kein programmatisches Dokument über dieses Problem. Bis heute scheut sich kaum ein Bischof, seine Machtsignale zur Schau zu stellen, die Jesus einmal an den Galgen brachten. Deutsche Bischöfe treten mit offenkundiger Eitelkeit damit in den Medien auf. Fakt dagegen ist: Aus ihrer Sicht mag das verständlich sein, denn gerade die katholischen und die orthodoxen Amtsstrukturen haben die christliche Botschaft immer noch symbiotisch verpackt in den Mythos einer vordemokratischen, scheinbar gottgewollten Staatsordnung und Staatsmacht („Es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt, jede ist von Gott eingesetzt“, Röm 13, 1b), die über Würde und Entwürdigung, über Freiheit und Unfreiheit, über das Leben und den Tod von Menschen letztlich in eigener Vollmacht entscheiden kann.

Dass man sich von diesen Vorstellungen bis heute nur mit Mühe, jedenfalls nicht konsequent trennt, ist schon schlimm genug. Noch schlimmer ist, dass diese Macht über Menschen und Seelen – wenn auch ohne physische Gewalt – jener einen Klasse der „Hierarchen“, also der heiligen Herrscher zukommt. Immerhin sieht der Papst bis heute (in Analogie zur Christusaussage im 1. Petrusbrief 2,25) im Bischof und im Priester einen „Hirten und Bischof der Seelen“. Seine Ansprache vom 29. Juni 2009 ist von einer patriarchal-autoritären Haltung durchdrungen, die allen „Normalgläubigen“ die Luft zum Atmen nimmt. Erstaunlich ist schon, wie ein Papst die ursprüngliche Bedeutung eines Schriftwortes in dieser Weise verfälschen kann. Schließlich geht es im Petrusbrief darum, dass eben Christus und nicht ein Kirchenführer „Hirte und Bischof der Seelen“ ist. Erstaunlich ist auch, dass einer solchen Äußerung keine Kritik von Theologen folgt, die doch wissen, was hier gespielt wird. Denn auch sie wissen, dass sich der Papst – gemäß unfehlbarer Definition von 1870 – eine ordentliche und unmittelbare Vollmacht „sowohl über alle und die einzelnen Kirchen als auch über alle und die einzelnen Hirten und Gläubigen“ zuschreibt.

Zitat vom 28. Juni 2009:
„So berührt sich das Wort ‚Bischof’ ganz eng mit der Bezeichnung ‚Hirte’, ja, es wird austauschbar damit. Aufgabe des Hirten ist das Weiden, das Hüten und das Führen der Herde zu den richtigen Weideorten. Weiden bedeutet: dafür sorgen, daß die Schafe die rechte Nahrung finden, daß ihr Hunger und ihr Durst gestillt werden. Ohne Bild sagt das: Das Wort Gottes ist die Nahrung, die der Mensch braucht. Das Wort Gottes immer neu gegenwärtig zu machen und so den Menschen Nahrung zu geben, ist Auftrag des rechten Hirten. Und er muss auch den Feinden, den Wölfen zu wehren wissen. Er muss vorausgehen, den Weg zeigen, die Einheit der Herde erhalten. Petrus stellt in seiner Anrede an die Presbyter noch etwas sehr Wichtiges heraus. Das Reden tut es nicht. Die Hirten müssen ‚Vorbilder für die Herde’ (5, 3) werden. Das Wort Gottes wird aus der Vergangenheit dann in die Gegenwart geholt, wenn es gelebt wird. Es ist wunderbar zu sehen, wie in den Heiligen das Wort Gottes ein Wort an unsere Zeit wird. In Gestalten wie Franziskus und dann wieder wie Padre Pio und vielen anderen ist Christus wirklich Zeitgenosse ihrer Generation geworden, aus der Vergangenheit heraus in die Gegenwart hereingetreten. Das heißt Hirte sein – Vorbild für die Herde werden: Das Wort jetzt leben in der großen Gemeinschaft der heiligen Kirche.“

Allerdings verstehe ich auch, dass die Christinnen und Christen früherer Epochen (von Spätantike, Mittelalter und Teilen der Neuzeit) mit einem solchen autoritären Hirten-Modell leben konnten, denn ihnen standen Gegenmodelle zur Seite; die nicht ordinierten „Laien“ waren dadurch nicht einfach entmündigt. Je nach Epoche gab es ein intensives Geflecht von gegenläufigen und ausgleichenden Ordnungsvorstellungen, Kompetenzen, Rechten und Einflussnahmen. Immerhin dominierte der „Laie“ Konstantin das Konzil von Nikaia (325), und je mehr sich die Kirche in weltliche Geschäfte einmischte, umso direkter wurden nichtordinierte Christen ihre Partner, die auf gleicher Augenhöhe agierten. Die Zweiteilung in Ordinierte und andere wurde in der Regel als Teil und Ausfluss einer selbstverständlich feudalen Gesellschaft be-griffen, die sich zugleich in anderen ständischen, später in beruflichen Gruppierungen bewegten. Da gab es neben dem Kleriker eben auch den Adel, den Bürger oder den Bauern, später den Akademiker, und selbst den Bettlern kam ihre eigene Würde zu. Die “Laien“ waren eben nicht nur ungebildete idiōtai, sondern in der Regel auch kundige Funktionsträger eigenen Rechts. In bestimmten Epochen konnten sie ihre eigene Spiritualität entwickeln, von denen die ganze Kirche profitierte. Man denke nur an die devotio moderna, die in Spätmittelalter und Renaissance eine wichtige Rolle spielte. Das neu erwachte Selbstbewusstsein von Christen in der Reformation ist ja nicht einfach der Erfolg eines neuen Denkens, sondern auch das Resultat eines starken Selbstbewusstseins, das sich zumal bei den Bürgern und im „niederen Klerus“ entwickelt hatte.

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert werden die aktuellen Missstände vorbereitet, wenn nicht gar offenkundig: Damals wurde die Zweiteilung der Gesellschaft in Adel und „Nichtadel“ obsolet und mit wachsender Industrialisierung verfielen ständische und bürgerliche Ordnungen, Berufsgedanke und Bürgerstolz. Der ersatzlose Verlust der gesellschaftlichen Dualitäten hat sich auf die innerkirchlichen Verhältnisse ausgewirkt. Denn außer einigen frommen Worten vom „gemeinsamen Priestertum“ blieb den getauften Christen innerhalb des vor-modern gebliebenen römisch-katholischen Apparates nichts mehr übrig. Der Apparat selbst hatte den „Laien“ nur noch den „Nicht-Ort“ des Abhängigen, zu Leitenden, des verirrten Schafs zu bieten; nur die Priester kennen, wie der Papst sagt, die richtigen Weide-Orte. Die zwanghaft negative Konnotation des Begriffs „Laie“ hat zu einem großen Teil in dieser Deregulierung innerkirchlicher Interaktionen ihren Grund, die sich im offiziell kirchlichen Verhalten widerspiegeln. „Laien“, die an ihrer Identität festhalten und ihr treu bleiben wollten, verließen jetzt die Kirche, um ihren Platz in außerkirchlichen Ordnungssystemen zu suchen, oder sie fanden ihre Identität (mehr oder weniger erfolgreich, verbittert oder resigniert) in der Dauerkonfrontation mit einer selbstbezogenen kirchlichen Klasse.

Man kann die Genese auch anders erklären: Je mehr die Kirchen aus ihrer gesellschaftlichen Integration heraus- und damit in keine neuen gesellschaftlichen Ordnungsmodelle mehr hineinwuchsen, umso systembezogener und orientierungsloser reagierte der Männerbund „Hierarchie“ gegenüber den Nicht-Hierarchen. Sie fielen in vormoderne Ordnungsmodelle zurück und verstanden sich – vor-moderner denn je – wie der von Gott berufene Adel gegenüber einem rechtlosen Volk. In diesem Sinn hat nach dem Konzil auch mancher Bischof die Losung vom „Volk Gottes“ verstanden. Jetzt geriet der Begriff „Laie“ tatsächlich zu einer Restbezeichnung für diejenigen, denen alle legitimen Einflussnahmen entzogen waren. Anders gesagt: Je mehr sich die katholische Kirche im Sinn zeitgemäßer Gesellschaftsordnungen „ent-weltlicht“ – umso bedeutungs-, recht- und heilloser gestaltet sich die Situation des getauften, ansonsten unqualifizierten Volkes. Schuld daran haben nicht nur die blinden Blindenführer, die sich Bischöfe nennen, sondern auch die Gilde der Theologen, die sich nur in seltensten Fällen diesem Problem gestellt hat.

Der Neuansatz des 2. Vaticanums konnte bislang nichts bewirken, weil seine Impulse durch nichts in Strukturen umgesetzt wurden. Insofern spiegelt die negative Konnotation des Begriffs „Laie“ nach wie vor die offiziellen Machtverhältnisse zwischen Amtsträgern und nichtordinierten katholischen Christinnen und Christen wider. Auch in den vergangenen Jahren haben sie ihr eigenes christliches Selbstbewusstsein noch nicht gefunden, stattdessen sich in die Rolle der Knechte drängen lassen. Begütigende und tröstende Worte helfen in dieser Situation nicht. Der fromm untertänige „Laie“ fungiert vorläufig noch als standlose Nummer, als ein Objekt großzügiger Seelsorge, das rest- und widerstandslos der Obhut der Herren ausgeliefert ist. Es reicht deshalb nicht, im Namen der Gleichberechtigung dagegen anzuargumentieren. Es gilt schon darauf hinzuweisen, dass eine Kirche mit solchen Strukturen das Recht auf den Ehrentitel einer „Kirche“ verloren hat. Dafür spricht übrigens der Widerstand gegen dieselben Argumente, auf Grund derer Rom den Kirchen der Reformation den Ehrentitel einer Kirche abgesprochen hat. Wer sich zu solchem Verhalten für berechtig hält, verwirkt seine eigene Würde.

1.3 Rationalisierung der Kirchentheorie: Lehrer und Unwissende

Gegen Ende des Mittelalters wuchsen der Mängelliste der „Laien“ zwei neue Dimensionen zu. Die erste sei nur kurz erwähnt: Sie zeigt sich in den ersten Traktaten zur Kirche, die es vorher nicht gab. Diese verorteten die Kirche juristisch im damaligen Staatensystem der Fürsten- und Königtümer. Es ging also nicht um den geistlichen Status, sondern um die Rechtsstellung von „Laien“ in der Kirche sowie um die Oberhoheit des Papstes über alle Fürsten. Aus einer solchen Mentalität konnte für die Gemeinschaft der Glaubenden nicht viel Gutes kommen. Mehr und mehr wurde ihr faktisch rechtloser Status als solcher legitimiert.

Die zweite Dimension, die erst allmählich an Bedeutung gewann, ist vielleicht wichtiger. Wie wir wissen, hat nach allgemeinem Urteil das Konzil von Trient (1545-1563) wichtige Reformen eingeleitet. Bischöfe und Priester wurden als Seelsorger definiert; mit Erfolg organisierte man deren Ausbildung jetzt von diesem Ziel her. In den Städten blühte das katholische Leben auf.

Auf die Glaubensgemeinschaft hatte dies positive Auswirkungen, zumal der vor-demokratische Ständestaat erhalten blieb, also auch der Stand der „Laien“ seine vielfältigen eigenen Inhalte kannte; Christen wussten, wo in ihrer Gesellschaft ihr jeweiliger Platz war. Doch langfristig änderte sich die Gesamtsituation. Zum tragenden Grund der Seelsorge wurden das Glaubensbekenntnis, der Katechismus und die theologische Lehre des Glaubens. Der Glaube wurde zunehmend antireformatorisch, also von seinen Inhalten her und auf die kirchliche Lehrautorität hin definiert. Das so entstehende eigenständige Lehrgebäude wuchs zu einem eigenständigen stattlichen Gebäude heran. Mit wachsender Entschiedenheit wirkte es als eine Gegenwelt und entwickelt sich in erstaunlicher Kontinuität weiter, verhärtete sich schließlich bis hin zum Antimodernismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Das brachte die „normalen“ Gläubigen in eine schwierige Doppellage:

(a) Die kirchliche Stellung und Identität der Gläubigen geriet in immer größere Abhängigkeit vom theologischen Wissen. Je mehr Theologie und theologisches Wissen die Führung übernahmen und zum Ausweis kirchlicher Qualität wurden, umso mehr gerieten die „Laien“ – gleich ob gesellschaftlich angesehen oder nicht – zu den Unkundigen und Nichtwissenden: In Predigt, Katechismuslehre und in der Beichtpraxis wurden sie von den seelsorgenden Priestern gelenkt.

 

(b) Die Gläubigen wurde immer mehr aus dem – rechtlich und theoretisch durchstrukturierten – Innenraum kirchlichen Lehrens und Handelns verdrängt. Sie waren mit dem Problem konfrontiert, dass die katholische Kirche insgesamt zu einer zwar machtvollen, aber in der Theorie doch „entweltlichten“ Gegenwelt wurde. Von Weltsolidarität war immer weniger die Rede, also wurden die Gläubigen immer mehr in die Alternative „Kirche oder Welt“ gepresst. Ähnlich wie der „Welt“ selbst gebührt den Repräsentanten dieser Welt – also den Unheiligen, den auf ihren Dienerstatus Festgelegten und jetzt auch zum Nichtwissen Verurteilen – ein grundsätzliches Misstrauen nach dem Motto, Unkenntnis sei zu beobachten, Kontrolle sei besser. Bis in die Zeiten der Liturgischen Bewegung hinein wurden diese Mechanismen der Belehrung und der Kontrolle regelmäßig verschärft:
* der katechetische Unterricht sorgte für ideologische Ertüchtigung; später wurde er durch intensive Jugendarbeit ergänzt;
* immer häufigere Beichtpraxis wurde für disziplinarische Kontrolle bis in die Leiblichkeit hinein ausgestaltet (Familie und Sexualität);
* immer häufigerer Messbesuch wurde gefordert, um die Umformung der laienhaft weltlichen Natur in das „übernatürliche“ Leben zu fördern;
* im 19. Jahrhundert begann schließlich die Ära der konsequenten Romanisierung und Monopolisierung kirchlichen Lebens.

Die Identifikation des „Laien“ mit ihrem Unwissen wurde während der Neuzeit zu einem überstarken Motiv. Seit dem 2. Vatikanischen Konzil beginnt es, sich gegen sich selbst zu kehren. Denn unabhängig von einer Ordination hat sich die inhaltliche (theologische, biblische, pädagogische und anthropologische) Kompetenz der Getauften in kaum erwartbarer Weise gesteigert. Dennoch bleibt eine Differenzerfahrung bestehen, denn viele Bischöfe haben sich einer Theologie verschrieben, die andere kaum mehr kennen. Jetzt steht nicht mehr Belehrtheit einer Unkenntnis gegenüber. Vielmehr hat sich ein neues theologisches Denken etabliert, von dem sich die Bischöfe konsequent entfernen. Deshalb ist heute kein Streit um Nichtwissen oder Wissen, sondern um die Frage zu führen, wer die bessere Theologie und Weltinterpretation auf seiner Seite hat.

1.4 Vereinnahmung durch das Teilhabemodell

Auf dem 2. Vaticanum wurde versucht, die Einseitigkeiten einer kopflastigen Kirchenlehre zu korrigieren. Unter dem Titel des „gemeinsamen Priestertums“ wurde die eigenständige Würde der Getauften klar herausgestellt. Mehr noch, es lässt sich in den entsprechenden Passagen zeigen, dass die das „tragende Prinzip“ der Kirche darstellen. Damit lässt sich arbeiten. Das Problem des 2. Vaticanums liegt in seiner mangelnden Konsequenz bzw. den vorschnell geschlossenen Kompromissen. Die Restkategorie „Laie“ wurde zwar modifiziert, aber die Korrespondenzkategorien Priester und Bischof (Hirte und Lehrer) in keiner Weise modifiziert oder relativiert. Eine solche Quadratur des Kreises musste misslingen und die vorgetragenen Lösungen blieben doppeldeutig. Das gilt für die Kirche als Sakrament, für die Betonung der Gemeinschaft und für den Gedanken der Teilhabe am priesterlichen Amt. Wie schon das LThK zieht W. Kasper in seinem neuesten Buch zur Kirche den Begriff vom „Gemeinsamen“ Priestertum dem vom „Allgemeinen“ Priestertum vor, denn die fundamentale Qualität des Priestertums ist Nicht-Ordinierten und Ordinierten gemeinsam. Faktisch haben die Nicht-Ordinierten an diesem Priestertum aber nur in Abhängigkeit von der Hierarchie teil. Nur für die „Laien“, nicht für die ordinierten Priester wird der Begriff der Teilhabe eingeführt. Der Durchschnittsleser wird die Passage so verstehen: „Laien“ haben am offiziellen Priestertum nur teil, während die Priester darüber verfügen. Deshalb sollen zwar alle den Glauben bezeugen, aber nur nach Maßgabe des kirchlichen Lehramts. Alles Apostolat ist kirchenoffizieller Führung zu unterstellen (Dekret über die Laien), denn nur die Hirten können eine legitime Kontrolle ausüben.

Im Dekret über das Laienapostolat heißt es:
(2) Es besteht in der Kirche eine Verschiedenheit des Dienstes, aber eine Einheit der Sendung. Den Aposteln und ihren Nachfolgern wurde von Christus das Amt übertragen, in seinem Namen und in seiner Vollmacht zu lehren, zu heiligen und zu leiten. Die Laien hingegen, die auch am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Christi teilhaben, verwirklichen in Kirche und Welt ihren eigenen Anteil an der Sendung des ganzen Volkes Gottes. …
(3) Aus dem Empfang der Charismen, auch der schlichteren, erwächst jedem Glaubenden das Recht und die Pflicht, sie in Kirche und Welt zum Wohl der Menschen und zum Aufbau der Kirche zu gebrauchen. Das soll gewiss mit der Freiheit des Heiligen Geistes geschehen, der „weht, wo er will“ (Jo 8,3), aber auch in Gemeinschaft mit den Brüdern in Christus, besonders mit ihren Hirten. Ihnen steht es zu, über Echtheit und geordneten Gebrauch der Charismen zu urteilen, natürlich nicht um den Geist auszulöschen, sondern um alles zu prüfen, und, was gut ist, zu behalten (vgl. 1. Thess 5, 12 19 21).

Dass gemäß dem Thessalonicherbrief auch den Gemeindegliedern Kontrollrecht gegeben ist, wird verschwiegen. Faktisch hat das Teilhabemodell des 2. Vaticanum nichts gelöst, sondern die Kirchenoffiziellen nur in die Angst vor einer Krise geführt, die nicht mehr außerhalb der Kirche, sondern in ihr liegt. Diese Krise ist Folge der eigenen Inkonsequenz. Man kann eine Gruppe nicht zugleich aufwerten und ihr alle Kooperation verweigern. Der Glaubenspräfekt G. L. Müller löst die Spannung dadurch auf, dass er kirchenkritische Reformer, weil sie eben „Laien“ sind, Parasiten nennt. In grob unverblümter Weise macht er so deutlich, wie manche Hierarchen die unbotmäßigen „Laien“ einordnen, weil diese aus solcher Teilhabe Rechte ableiten, die das Besitzrecht der Hierarchen schmälern könnten.

Dass angesichts solcher Texte die aktuelle Krise aufgebrochen ist, ist deshalb ein Gewinn. Sie zeigt: Bei Personen wie G. L. Müller ist dieser Wettstreit zwischen Amtsträgern und Gläubigen zum Streit ohne Inhalte, also zum reinen Machtkampf degeneriert. Weil man sich aber auf keine inhaltlichen Diskussionen einlässt, indem man aus dem hierarchischen Lehramt besteht, kann keine Interaktion zustande kommen. Für solches Denken steht die Rolle der „Laien’“ inzwischen paradigmatisch für die jeweils Untergeordneten. Auch viele Priester werden inzwischen wie „Laien“ behandelt: also diszipliniert, mit Misstrauen betrachtet, notfalls abgesetzt und vor eine Mauer der Intransparenz gestellt. Ähnlich ergeht es Bischöfen, die Widerspruch wagen. Unter solchen Vorzeichen kann schon die Existenz von nichtordinierten Gläubigen zur Bedrohung eines hierarchischen Systems werden, das nur noch sich selber kennt. Das ist eine absurde Situation. Denn dieses System zerbricht genau an einem Autismus, der irrigerweise noch meint, sich durch Sakralität, Macht und besseres Wissen stabilisieren zu können.

II. Die Mechanismen zur Stabilisierung des gegenwärtigen Systems

Natürlich ist auch meine These von einem selbstzerstörerischen Systemzwang des römisch-katholischen Kirchenapparats nicht nur von Beobachtungen geleitet, sondern auch von Interessen, sosehr ich davon überzeugt bin, den Kern der biblischen Botschaft auf meiner Seite zu haben. Das gilt auch für das hier folgende Kapitel zur Frage, wie der offizielle Kirchenapparat sein System zu stabilisieren versucht. Dessen eingedenk ziehe ich angesichts der aktuellen Polarisierung in der katholischen Kirche dennoch die Form eines streitbar kritisierenden Textes vor. Auf Gegenargumente lasse ich mich gerne ein. Ich nenne hier vier Mechanismen, auf die sich die Hierarchie in einer für sie kritischen Situation zurückzieht.

2.1 Egozentrische Selbstpräsentation der Hierarchie

Konservatismus und Fundamentalismus müssen nicht zu einer altbackenen Vorgestrigkeit oder Immobilität führen, im Gegenteil. Dies hat sich schon im 19. Jahrhundert gezeigt, als die katholische Kirche in Deutschland hervorragende Mittel entwickelte, die der Massenkommunikation und der Stärkung eines öffentlich wirksamen Führerprinzips dienten. Zudem entdeckte man – ähnlich wie in den Niederlanden – die Jugend- und Familienpastoral, ein christliches Erziehungswesen, die Krankenseelsorge sowie eine kirchendienliche Freizeitgestaltung. Das Prinzip hat sich nicht geändert. Unter dem hochkonservativen Wojtyla-Papst entwickelte sich der Vatikan zu einer Mega-Wanderinstitution zur Abwicklung religiöser Massenevents, höchstens noch getoppt von der Crystal Cathedral in Garden Grove (Kalifornien), mit seinen charismatischen Predigern, die über ihr Mediensystem sonntäglich bis zu 50 Millionen Menschen erreichen. Übrigens wirken auch die Kathedralen von San Francisco und Los Angeles mit ihren konservativen Führergestalten ausgesprochen weltoffen, modern, und die genannte Cathedral wird in drei Jahren von der katholischen Diözese Orange übernommen. In Sachen Öffentlichkeitsbeschallung wird die katholische Kirche vorerst eine Weltmeisterin bleiben, der man Erfolge nicht absprechen kann; man denke nur an die letzten Weltjugendtage von Köln (2005), Sydney (2008) und Madrid (2011). Wie in allen autoritären Systemen werden solche Aktivitäten gerne wahrgenommen.

Gleichzeitig unterschätze man nicht, wie moderne Kommunikationsmittel (das Internet insbesondere) die Kommunikations- und Kontrollmöglichkeiten enorm beschleunigt und gesteigert haben. Es gibt buchstäblich nichts, was nicht im Vatikan bekannt wäre, auch wenn sich die interne Verwaltung in einem höchst unprofessionellen und katastrophalen Zustand befindet. Die Ungleichzeit dieses Apparates mit Herrn Prälaten Gänswein, der die Papiere noch von Schreibtisch zu Schreibtisch trägt, um sich vom päpstlichen Kammerdiener bestehlen zu lassen, diese Spannung also des alten Weins in neuen Schläuchen macht wohl die aktuelle Faszination des Apparates aus. Denn solche Diskrepanz steigert nur die Möglichkeiten zur Selbstdarstellung einer Hierarchie, die sich selbst mit der christlichen Botschaft verwechselt. Die Ritualisierung der öffentlichen Vorgänge wurde erheblich gesteigert, prachtvolle Gewänder wurden aus den Schränken geholt, das religiöser Feste entwöhnte Volk lechzt nach Großveranstaltungen, Weihnachts- und Osterbotschaften.

Diese Selbstrepräsentation wird als Darstellung priesterlicher Vollzüge, der Erlösung des Heiligen interpretiert. Zu werten ist sie als degenerierter Sakramentalismus. Sie verweist nicht auf das Heilige, sondern auf einen religiösen Schein, der christlich nicht mehr zu rechtfertigen ist. Zur Darstellung kommt in der Regel eine autoritär gegliederte Gruppe mit dem Papst als Mitte, einigen Kardinälen als Thronassistenten zur Dekoration, den Bischöfen als Schutzschild und – mit angemessenem Abstand – applaudierenden Gläubigen, die das himmlische Schauspiel bewundern. In diesen Spektakeln werden die sichtbare Präsenz des Papstes und die (intendierte) Präsenz Christi in bedenklicher Weise vermischt. Von den kritischen Fragen der Kirche, von ihren Versäumnissen angesichts der Gegenwart wird abgelenkt. Man fühlt sich in die Zeit des Barock zurückversetzt, dessen pastorales Prinzip lautete: Aufscheinen müsse der „Triumph der Gnade Christi“. In einer säkularen Epoche kann dieses Prinzip nur noch zu ablenkenden und vertröstenden Effekten führen, die Situation einer polarisierten Kirche aber nicht lösen.

2.2 Bedingte Befugnisse für die Gläubigen

Auch ein zweiter Mechanismus zur Stabilisierung des Systems ist gut eingespielt; er rechnet mit dem bleibenden guten Willen und dem selbstlosen Engagement katholisch engagierter Männer und Frauen. Um der Sache willen sind sie nach wie vor bereit, sich in ihrer Kirche zu engagieren. In bestimmten Grenzen lässt man sie gewähren, sofern sie in Wort und Tat ihre Systemkritik zurückhalten. Viele eingespielte Lösungen müssen in sich nicht schlecht sein. Doch auf lange Sicht finde ich sie unaufrichtig, wenn nicht gar destruktiv. Denn zur Beruhigung der Gemüter erwecken sie einen Schein, den sie weder einlösen wollen noch einlösen können.

Allerdings durchzieht dieses Problem schon die Etagen der hohen Hierarchie. Hervorragendes Beispiel ist die regelmäßig in Rom tagende Bischofssynode. Sie suggeriert weltweite Kooperation und aktive Mitarbeit der Weltkirche bei gemeinsamen Angelegenheiten. In Wirklichkeit ist sie ein in sich rechtloses Instrument: Es fehlen ihr die Rechte der Einberufung, der eigenständigen Mitglieder- und Themenwahl, der Tagesordnung und des Vorsitzes, sogar des eigenen Protokolls. Diese Synode ist allein zu Diensten des Papstes; inhaltlicher Widerspruch ist in ihr faktisch unmöglich. Man wundere sich nicht über die Verachtung der Gläubigen durch Bischöfe, die sich selbst so behandeln lassen. Auf der ersten Bischofssynode, der Papst Benedikt vorsaß, gab es unerwartet pro Tag eine Stunde zur freien Diskussion. Es soll schwergefallen sein, für diese Stunde genügend Diskussionsbeiträge zu finden.

Es ist diese Mentalität des sich Vereinnehmenlassens, also des puren Glücks darüber, dass man dabei sein darf, die Bischöfe bei engagierten Gläubigen ebenfalls voraussetzen. Man stellt einige Alibifrauen als „Amtsträgerinnen“ in Ordinariaten ein und diejenigen, die in Pfarrgemeinderäten die Arbeit machen, dürfen sich „zweite Vorsitzende“ nennen. Getaufte Katholiken und Katholikinnen dürfen vor der Eucharistiefeier eine „Erwägung“ vortragen; ausgerechnet an Karfreitag dürfen „Laien“ predigen, weil an diesem Tag kein Gottesdienst gefeiert wird. Bisweilen ist so ein Gremium der Willkür des Pfarrers ausgeliefert und Bischof Müller nahm sich das Recht, die Mitarbeit von „Laien“ nach eigenem Gusto neu zu ordnen, was das ZdK als „nicht hinnehmbare Rechtsverletzung“ qualifizierte. Viele Pfarrer handeln kollegial und prompt neigen wir zur Dankbarkeit für Zugeständnisse, auf die wir ein Recht haben müssten. Diese verquere Stabilisierungsstrategien gegen zu viel Laientum wird vom Kirchenrecht auf breiter Front gestützt.

Zur halbherzigen, aber trügerischen Vereinnahmung gehört auch der aktuelle Gesprächsprozess, der den Dialog zwischen Hierarchen und Gläubigen nur vortäuscht. Deshalb wird er auch nicht gut enden, falls die Bischöfe mit ihrer unaufrichtigen nachkonziliaren Tradition nicht brechen.

2.3 Ein absolutistisches Kirchenrecht

Das massivste, nach wie vor wirksamste Mittel zur Ruhigstellung der engagierten Katholikinnen und Katholiken ist das aktuell gültige Kirchenrecht. Gewiss, gegenüber dem früheren Rechtscodex (CIC 1917) mag man im neuen Codex (CIC 1983) interessante Fortschritte entdecken. Immerhin lässt sich in ihm eine indirekte positive Definition des „Laien“ finden. In zwei Canones ist – vorgängig zu „Laien“ und Klerikern – von „den Gläubigen“ die Rede. Entscheidend für ihre Identität sind Taufe, Glaubensbekenntnis, Sakramente und kirchliche Leitung.

Can. 204 – § 1. Gläubige sind jene, die durch die Taufe Christus eingegliedert, zum Volke Gottes gemacht und dadurch auf ihre Weise des priesterlichen, prophetischen und königlichen Amtes Christi teilhaft geworden sind; sie sind gemäß ihrer je eigenen Stellung zur Ausübung der Sendung berufen, die Gott der Kirche zur Erfüllung in der Welt anvertraut hat.
Can. 205 – Voll in der Gemeinschaft der katholischen Kirche in dieser Welt stehen jene Getauften, die in ihrem sichtbaren Verband mit Christus verbunden sind, und zwar durch die Bande des Glaubensbekenntnisses, der Sakramente und der kirchlichen Leitung.

Dies vorausgesetzt, fällt die Definition des „Laien“ dann doch wieder negativ aus: Es gebe neben den Klerikern eben die „übrigen“. Juristisch und theologisch ist dies gewiss keine Meisterleistung, eher eine Verlegenheitslösung. Es ist, als definiere man alle Deutschen, vom Regierungskabinett abgesehen, als nicht-regierende Deutsche, oder als teile man ein Volk in Beamte und Nicht-Beamte auf.

Can. 207 – § 1. Kraft göttlicher Weisung gibt es in der Kirche unter den Gläubigen geistliche Amtsträger, die im Recht auch Kleriker genannt werden; die übrigen [!] dagegen heißen auch [?] Laien.

Dennoch sei positiv vermerkt: Auch dieser negativ definierten Personengruppe werden einige Rechte und Pflichten zugesprochen. Sofern sie zu den Gläubigen zählt (can. 208-223), hat sie u.a. – ebenso wie die Kleriker – das Recht, den Hirten der Kirche Anliegen und Wünsche sowie ihre Meinung in Sachen vorzutragen, die das Wohl der Kirche betreffen (can. 212 – § 2 und 3). Ferner steht ihr das Recht zu, „Vereinigungen für Zwecke der Caritas oder der Frömmigkeit oder zur Förderung der christlichen Berufung in der Welt frei zu gründen. Sofern es die übrigen „Laien“ sind (can. 224-231) stehen ihnen aber keine spezifischen aktiven Rechte zu, die ihre Eigenständigkeit gegenüber den Klerikern konstituieren oder stabilisieren könnten.

Was ist von diesen mageren Einlassungen zu halten? ‚Besser als nichts’, mag man sagen und vieles Gesagte ist zur Förderung nichtordinierter Frauen und Männer vielleicht ausbaufähig. Dennoch kann die Beantwortung der Frage nicht absehen vom Anliegen eines kirchlichen Grundgesetzes (lex fundamentalis). Obwohl dieses vom Konzil angeregt wurde und in mehreren Entwürfen vorliegt, wurde es konsequent hintertrieben. Die Kurie hat alle Ansätze blockiert, die prinzipiell vom Recht der Menschen innerhalb oder außerhalb der Kirche ausgehen. So wird zwar behauptet, der aktuelle kirchliche Rechtscodex (CIC 1983) habe die Gedanken des Konzils aufgenommen, aber er blieb eine Mischung von Dienst- und Sanktionsrecht, aus vor-modernem und absolutistischem Geist verfasst. Man kann nicht behaupten, der Status nichtordinierter Katholikinnen und Katholiken wurde irgendwo grundsätzlich festgelegt oder geschützt.

Das Ergebnis für die Situation der Getauften im römisch-katholischen System bleibt also niederschmetternd. Niemand, der ohne Ordination in kirchlichen Diensten ist, genießt einen prinzipiellen Rechtsschutz, sie alle bleiben auf die Willkür der Entscheidungsbefugten angewiesen. Professoren können ihre Lehrerlaubnis verlieren und Angestellte auf bischöflichen Befehl hin entlassen werden. Ein kontrollierendes Verwaltungsrecht, das diesen Namen verdient, gibt es nicht. Das Kirchenrecht kennt keine prinzipielle Aufklärungs- oder Informationspflicht, keine Akteneinsicht, in der Regel kein Recht auf einen Rechtsbeistand. Übrigens gilt das nicht nur für „Laien“ im strengen Sinn, sondern auch für „unbotmäßige“ Priester (viele Beispiele sozusagen vor der Haustür); zur Not auch für Bischöfe (Bischof Jacques Gaillot in Frankreich [1995], Bischof William Morris in Australien [2011], Erzbischof Róbert Bezák in der Slowakei [2012]).

Das Kirchenrecht realisiert die Klerikerideologie als eine paternalistische, in sich geschlossene, intransparente Männergesellschaft. Sein absolutistischer Geist schlägt sich in den Bestimmungen zum Papst als absolutem Souverän ausdrücklich nieder. Die beschriebenen Negativbestimmungen der nicht ordinierten Katholikinnen und Katholiken (profan, untertan und hörend) werden indirekt, aber massiv durch die entsprechenden Positivbestimmungen der Kleriker bzw. Bischöfe stabilisiert. An den 2011 bekannt gewordenen Missbrauchs- bzw. Vertuschungsaffären und der jetzigen Behandlung von Missbrauchsopfern lässt sich paradigmatisch darlegen, welche Schutzwälle das Kirchenrecht zum „Schutz“ ihrer Kleriker errichtet hat. Anders gesagt: Das Kirchenrecht ist und bleibt eine harte Bastion zur Absicherung des aktuellen Systems, das die „normalen“ Gläubigen – von geringen Einschränkungen abgesehen – nur als zu gehorsame und zu Botmäßigkeit verpflichtete Objekte, nur als Hörende und Empfänger von Heilsgütern kennt.

Ist dieses Urteil nicht zu hart? Schließlich können wir im CIC auch lesen: „Die Laien haben das Recht, dass ihnen in den Angelegenheiten des irdischen Gemeinwesens jene Freiheit zuerkannt wird, die allen Bürgern zukommt …“ (can. 227). Das ist richtig. Die Katholiken demokratisch geführter Länder haben das Glück, dass ihnen bürgerliche Freiheiten zukommen; es wäre ja noch schöner, wenn diese durch die Kirche beschnitten würden. Schon schwieriger ist die Frage, welchen Schutz die Kirche ihren „Laien“ in Ländern gewährt, die ihren Bürgern eben keine Freiheit zuerkennen. In manchen lateinamerikanischen Ländern hat man nicht das Gefühl, dass die Kirche dort zum Hort des Freiheitsschutzes geworden wäre. Für europäische Länder aber gilt die Grundregel: Mit wachsendem innerkirchlichen Engagement wachsen die Konfliktpotentiale, denen sich gläubige Katholikinnen und Katholiken aussetzen. Für viele folgt daraus eine innere oder äußere Emigration. Das ist die Folge der massiven Selbststabilisierung des Kirchenapparats mit Hilfe eines absolutistischen Rechts.

2.4 Unfehlbarkeit als Familiengeheimnis

Allerdings ist das Kirchenrecht nicht die letzte Instanz offiziellen Handelns; der Papst als Gesetzgeber und Exekutor in einem könnte es über Nacht ändern. Doch das Kirchenrecht ist der Spiegel und juridische Niederschlag jenes absoluten Selbstbewusstseins der römisch-katholischen Kirche, zu deren Stabilisierung es formuliert ist: Die Kirche hat die Wahrheit schlechthin, sie verfügt über alle Heilsgüter und ihr kommt deshalb alle Verfügungsgewalt im Namen Gottes zu, dies in einer hohen Ausschließlichkeit. Die Öffnungsversuche des 2. Vaticanum sind im neuen Codex nur bedingt angekommen.

Anker und Kern dieser Selbstüberhebung über alle Konfessionen und Religionen – 2002 in Dominus Iesus in neuer Weise formuliert – ist die Unfehlbarkeits- und Primatsdefinition von 1870. Sie gilt nach wie vor und wurde auf dem 2. Vaticanum ohne Restriktionen aufgenommen, durch ausdrücklichen Verweis auf die „ordentliche“ Unfehlbarkeit (LG 25) in gewissem Sinn sogar erweitert. Angesichts der Enzyklika zur künstlichen Geburtenregelung (Humanae vitae) wurde Hans Küng klar, dass diese Unfehlbarkeitsdefinition nach wie vor alle tiefer reichenden Erneuerungsversuche mit einer Generalblockade belegt. Dies war der Anlass für die Anfrage, die er 1970 – im Sinn einer parlamentarischen Intervention, wenn man so will – vorlegte. Er bat um überzeugende Begründungen für diese Mutter aller Dogmen.

Die heftige Debatte (mit den späteren Sanktionen gegen Hans Küng) hatte einen unerwarteten Effekt, über den ich heute noch staune: Nach Abklingen der Debatte von 1970 wird in aller Regel der römische Unfehlbarkeitsanspruch mit Schweigen übergangen. Man will darüber nicht mehr reden, aber umso wirksamer und hintergründiger bestimmt er römisches Handeln. Faktisch wird er wie ein Familiengeheimnis behandelt, gerade deshalb ist er in Rom zu einer Grundhaltung geworden, überall präsent, wirksam in Lehre, Handeln und Selbstdarstellung. Ein solches Geheimnis schafft Existenzängste, die man bei vielen Bischöfen spürt. Zugleich sorgt es wirksam dafür, dass normale Gläubige nie und nimmer in den engeren Kreis verantwortlichen Redens, Entscheidens und Handelns kommen können. Der Anspruch selbst aber wird verschwiegen oder mit harmonisierenden und besänftigenden Erklärungen umgeben; Ausnahme war die Erklärung zum Ordinationsverbot für Frauen (Okt. 1995). Bei seiner Diskussion wird deutlich: Meist wagen es nicht einmal die Kritikerinnen und Kritiker, den Unfehlbarkeitsanspruch unverblümt aufs Korn zu nehmen; das aber kommt einer Selbstblockade gleich, denn schließlich ist es die „ordentliche“ Unfehlbarkeit, die seitdem das römische Handeln bestimmt. Verkürzt zusammengefasst erklärt sie alles für unfehlbar, war bislang in der Kirche allgemein und streng gegolten hat: ‚Das war schon immer so’.

„Die einzelnen Bischöfe besitzen zwar nicht den Vorzug der Unfehlbarkeit; wenn sie aber, in der Welt räumlich getrennt, jedoch in Wahrung des Gemeinschaftsbandes untereinander und mit dem Nachfolger Petri, authentisch in Glaubens- und Sittensachen lehren und eine bestimmte Lehre übereinstimmend als endgültig verpflichtend vortragen, so verkündigen sie auf unfehlbare Weise die Lehre Christi. Dies ist noch offenkundiger der Fall, wenn sie auf einem Ökumenischen Konzil vereint für die ganze Kirche Lehrer und Richter des Glaubens und der Sitten sind. Dann ist ihren Definitionen mit Glaubensgehorsam anzuhangen.“ (Lumen Gentium 25, Abs. 2)

Je mehr Unsicherheit sich unter den Kirchenleitungen verbreitet, umso mehr Gewicht erhält diese Feststellung, dass es schon immer so war. Das gilt für die traditionellen Aussagen gegen den Protestantismus, gegen die anderen Religionen und gegen die Frauen, für Ehe- und Sexualmoral, eben auch zur ortlosen Stellung der nichtordinierten Katholikinnen und Katholiken, bei Benedikt XVI. sogar für die Gestaltung der Liturgie.

Aber auf rational argumentativer Ebene gerät Rom bei all diesen Fragen in Schwierigkeiten. Daraus folgen die vielen ablenkenden, oft beleidigenden Reaktionen: die Kirche sei schließlich kein Fußballclub, die Katholiken hätten von Theologie keine Ahnung, bestimmte Wahrheiten seien eben nicht verhandelbar und nur die Bischöfe die authentischen Lehrer. Je mehr dabei die Basistheorie der Unfehlbarkeit besprochen wird, umso zwanghafter wirkt sie sich im hierarchischem Handeln aus. Es kann Bischöfe geradezu pathologisieren, wie sich an vielen Beispielen zeigen ließe.

Dieses unausgesprochene Familiengeheimnis ist der Grund dafür, dass man unsinnigerweise am Verbot der künstlichen Geburtenkontrolle festhält, wiederverheiratete Geschiedene von den Sakramenten ausschließt, Homosexualität massiv verurteilt oder die Frauenordination verbietet. Sie ist auch der Grund dafür, weshalb im vergangenen Jahr der geplante „Dialog“-prozess zu einem „Gesprächs“-prozesss herabgestuft wurde und viele Desiderate von vornherein als „nicht verhandelbar“ gelten. Übrigens ist sie auch der Grund dafür, dass man zwischen Gläubigen und Amtsträgern einen Unterschied konstatiert, der das Wesen, „nicht nur den Grad“ betrifft. Dieses Familiengeheimnis führt zu einem Doktrinalismus, der das Laientum als absolute Restkategorie definiert und zugleich tabuisiert. Ähnlich wie bei den soeben genannten Streitpunkten ist in dieser Frage so schnell keine Einigung zu finden. Umgekehrt gilt aber auch: Die Diskussion von Einzelfragen zur Stellung von getauften Männern und Frauen in der römisch-katholischen Kirche führt nicht weiter. Deshalb bleibt – aus Gründen des Selbstschutzes und zur Bewahrung ihrer christlichen Identität – engagierten Katholikinnen und Katholiken nur noch die Wahl, das klerikale System insgesamt in Frage zu stellen. Damit setzt man sich schnell dem Vorwurf aus, man greife die Kirche insgesamt an. Deshalb ist vorrangig klarzustellen: Diese grundsätzliche Auseinandersetzung mit der Hierarchie und ihren Absolutheitsansprüchen steht im Dienst der Kirche als einer umfassenden Glaubensgemeinschaft. Die Lösung dieser Frage lässt keine Kompromisse mehr zu.

III. Zur Überwindung des gespaltenen Systems

Wie und in welcher Richtung ist also das aktuelle römisch-katholische System auf eine umfassende, allseits integrierte und nach außen offene Glaubensgemeinschaft hin zu überwinden? Ich vermute, dass auch reformorientierte und engagierte Gläubige über diese Frage zu wenig nachdenken. Wir sind in der Regel zu binnenkatholisch orientiert, überlassen den Kirchenleitungen zu viel und beschränken uns meistens auf Reaktionen; wir protestieren erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Wichtig ist eine neue Verständigung über die Frage, was denn unsere langfristige Letztorientierung ist. In diesem Horizont möchte ich zwei Forderungen formulieren. Daraus ziehe ich dann einige Folgerungen.

3.1 Unser Ziel: Kein Priestertum, sondern einvernehmliche Gemeindeleitung

Angesichts der Dominanz des Priestertums und eines sakramentalistischen Kirchenbilds sind wir – mehr oder weniger bewusst – von einer tiefen Hochachtung zum Priestertum, einer nachhaltigen Hochschätzung der Eucharistie und einem großen Stolz auf die weltumspannende Catholica geprägt. Eine fruchtbare Reformarbeit in der römisch-katholischen Kirche setzt voraus, dass wir mit dieser vor-reflexiven, katholisch genannten Spiritualität ins Reine kommen. Am besten wäre es, zu diesen hochemotionalen Werten eine kritische, wenn auch wohlwollende Distanz zu gewinnen. Nur so kann es uns gelingen, einige katholisch-laikale Urreflexe besser zu beherrschen. Diese Urreflexe lauten:
– Wir möchten – in diesem System und deshalb ohne Systembruch – als „Laien“ und im Sinne einer echten Demokratie ernstgenommen werden. Dieser Wunsch kann keinen Erfolg haben, denn für römisch-katholisches Systemdenken bedeutet diese Forderung, wie ich zu zeigen versuchte, schlicht eine innere Revolution.
– Wir möchten im Pfarramt ja nur demokratisch gesinnte Priester und im Bistum menschenfreundliche Bischöfe. Es geht gar nicht um eine Neudefinition von „Laien“, sondern um die Besserung des Klerus.
– Wir fordern die Aufhebung des Zölibats, dann regeln sich die Folgeprobleme von selbst. Das ist zu einfach gedacht. Denn wenn heute der Zölibat aufgehoben wird, sind Mentalität, Geschlossenheit und innerer Zusammenhalt des Klerus massiv bedroht. Diese massive Angst ist der eigentliche Grund der aktuellen Blockade.
– Wir fordern das Recht und die Praxis der Frauenordination. Hier gilt die Angst vor einer Katastrophe erst recht. Zudem muss vorgängig zu ihr das Unfehlbarkeitsproblem gelöst werden.

Die zentrale Blockade der „Laien“frage ergibt sich aus der Dominanz des Priestertums. Entgegen biblischer und frühchristlicher Position gehen wir davon aus, nur Priester (oder Priesterinnen) könnten eine Gemeinde leiten und der Eucharistie vorstehen. Das ist eine volks- und staatskirchliche Frage. Nach Maßgabe der frühen Gemeinden, der paulinischen Charismenlehre, des ersten und des zweiten Jahrhunderts gilt zunächst eine recht pragmatische Frage, zu der wir heute zurückkehren müssen: Wer kann – nach Maßgabe der jesuanischen Botschaft und zeitgemäßen Erfordernissen – in unseren Gemeinden und in unserer vielfältig gegliederten Großgemeinschaft in sinnvoller Weise welche Leitungsfunktion übernehmen? Diese Frage, von den Ursprüngen des Christentums gedeckt, zeugt weder von glaubens- und seelenlosem Funktionalismus noch von oberflächlichem Pragmatismus, sondern von der Sorge um eine Kirche, die ihren Auftrag erfüllt.

Die biblische und die zeitgenössische Maßgabe treffen sich in dem einen Punkt: Niemand hat Recht und Gabe zur Gemeindeleitung, weil er zuvor ein Priester ist; dieses Konzept hat sich seit dem 3. Jahrhundert entwickelt und im ersten Jahrtausend auf breiter Front durchgesetzt. Vielmehr sind es Gemeindeleiterinnen oder Gemeindeleiter, die in der Regel den Vorsitz auch bei gottesdienstlichen Feiern (das Abendmahl eingeschlossen) übernehmen. Damit wird keine Säkularisierung der Leitungsämter angestrebt, sondern eine vernünftige Rückkehr an den Beginn ihrer Entstehungsgeschichte. Im Grundansatz gibt es in einer christlichen Kirche also keine Priester und „Laien“, sondern Gläubige, die getauft sind (oder sich auf die Taufe vorbereiten). Aus ihrer Mitte beauftragen sie einige herausragende und allseits akzeptierte Mitgläubige dazu, Leitungsfunktionen wahrzunehmen. Über spezifische Kriterien (Mindestalter, Schrift- und Theologiekenntnisse, Umgang mit Menschen, Teamfähigkeit u.a.) kann man sich problemlos verständigen. In dieser Perspektive löst sich die Restkategorie vom „Laien“ ins Nichts auf.

Angesichts der vergangenen Jahrzehnte mit ihren Misserfolgen sollten wir keine falschen, in ihrer Weise nostalgischen und weinerlichen Schlachten mehr schlagen. Wut ja, aber bitte kein Selbstmitleid. Das heißt: Diese Zielvorgabe verlangt uns einige Selbstlosigkeit ab. Wir müssen erkennen, dass wir bislang an dem Machtspiel zwischen Klerus und „Laien“ mitgespielt haben. Ideologisch haben wir damit das System stabilisiert, denn wir reagierten genauso, wie es die Hierarchie in ihrem strukturellen Misstrauen schon immer projizierte. Wer sich von diesem Priester-Laie-Spiel befreit hat, kann umso klarer angemaßte Macht anprangern und das gängige Priestertum entmythisieren.

3.2 Unser Horizont: Kein neuer Triumphalismus, sondern Weltsolidarität

Unser Streit fordert ein hohes Maß an Energie und Gelassenheit. Kämpfen wir also nicht gegen Windmühlen und fordern wir kein utopisches Ideal, etwa eine puristische, wenn nicht gar triumphalistische Neuorientierung der Kirche. Geht es überhaupt um die Kirche? Ist sie für unsere Gesellschaft noch interessant? Ist es unsere Berufung, in neuer Weise zu Katho- oder Öku-Egoisten zu werden?

Wir können diesen Fragen entgehen, indem wir jesuanisch denken. Nach allem, was wir wissen, hat er sich keine Kirche ausgedacht, sondern Gottes Reich kommen sehen, auf dieses Kommen eingelassen. Er lebte schon „zwischen den Zeiten“, und dies scheint mir die wichtigste, neu zu entdeckende Tugend guter Christen zu sein. Deshalb meine gewagte These: In erster Linie sind wir keine Katholiken, Altkatholiken oder Protestanten, vielmehr stehen wir solidarisch mit einer vielfältig bedrohten Menschheit und Welt. Wir entdecken uns als Geschwister, weil wir uns leidenschaftlich mit der Welt verbunden fühlen.

Wenn unseren Leidenschaften, unserem geistlichen Engagement und unserer Spiritualität ein gemeinsamer Einsatz für die Menschen und ihre Welt vorausgeht, ist uns für die kirchlichen Reformfragen vermutlich eine große Gelassenheit gegeben. Auch dies möchte ich provokativ formulieren, weil es sehr wichtig ist: Jesus und seine Jünger konnten durchaus ohne Kirche leben, wenn auch nicht ohne die Sache, auf die sie sich verpflichtet wussten. Afred Loisy’s oft zitiertes Wort „Jesus verkündete das Reich, gekommen ist die Kirche“ ist bar jeder Ironie. Diese innere Distanz zum Kirchenapparat und seinen Nachfolgeansprüchen sowie das Ende der kirchlichen Fixierungen ist die beste Garantie für eine selbstverständliche Kirchlichkeit. Denn Kirche ist kein Selbstzweck. Sie ist eher das Mittel oder der gemeinschaftliche Raum, „Zeichen und Werkzeug“ (LG 1), ein Lebensmilieu also , in dem unsere Weltarbeit aufleben kann. Für Kirchenfans mag das gefährlich klingen. Für Kirchenrealisten ist es selbstverständlich. Denn nur diese glaubwürdige Weltsolidarität ist die Garantie für eine Kirche, die – gleich ob römisch-katholisch oder nicht – der Menschheit noch etwas zu sagen hat.

3.3 Sonstwo Alternativen suchen oder das System unterlaufen?

Die Loslösung von traditionell kirchlichen Fixierungen mag zu unterwarteten Klippen führen, denn sie führt uns zu Scheidewegen und Entscheidungen, die schon viele getroffen haben. Viele gingen in die innere oder äußere Emigration. Sie haben sich in sich selbst, in kleine Gruppen zurückgezogen oder sich einer anderen Kirche zugewandt. Solche Entscheidungen erfahre ich in meinem Reformkampf immer als eine Niederlage. Zugleich habe ich für sie Verständnis, denn getroffen werden sie nicht aus Bequemlichkeit, sondern aus ersten Auseinandersetzungen heraus. Das gilt zumal dann, wenn sich Suchende oder Enttäuschte einer anderen Kirchengemeinschaft zuwenden. Ich denke an die reformatorischen Kirchen, aber auch an die Altkatholische Kirche. Ich persönlich habe noch nie an einen solchen Auszug gedacht. Ich gebe aber zu: Bei der Stange bleibe ich auf Grund meiner privilegierten Position. Umso mehr bewundere ich diejenigen, die ohne jede innere Belohnung auf verlorenem Posten verharren. Die Alternative lautet nicht mehr: Davonlaufen oder das System ändern? Sie lautet: Alternativen suchen oder das System unterlaufen?

Alternativen suchen: Es ist gar keine Frage, dass alle Christen ausnahmslos das Recht haben, gemäß ihrem Gewissen ihren eigenen Weg zu gehen. Faktisch stehen uns die Altkatholische Kirche und die evangelischen Kirchen sehr nahe. Viele, die diesen Weg gegangen sind, haben ihre Kontakte mit reformorientierten Katholikinnen und Katholiken gerade nicht aufgegeben. Sie können uns vielfältig unterstützen. Zudem kann ein massiver Mitgliederverlust Reformimpulse auslösen.

Das System unterlaufen: Ich weiß auch, dass niemand derer, die bleiben, die einzig wahre, einzig konsequente und überzeugende Lösung hat. Wir werden innerhalb des Reformlagers unsere taktischen und strategischen Differenzen ertragen müssen. Wenn wir das System schon unterlaufen, dann auf vielfältigste Weise! Die einen kämpfen gegen den Zölibat, andere für die die Ordination von Frauen, wieder andere verfolgen das kirchenoffizielle Handeln mit entlarvender Kritik. Hinzu kommen die vielfältigen Solidarisierungen mit Opfern des Systems. Immer sollte der Versuch mitschwingen, das System zu unterlaufen und sperrige Tatsachen zu schaffen.

Ein gutes Beispiel dafür ist die österreichische Pfarrer-Initiative, in der die Pfarrer einfach erklären, was sie jetzt tun und lassen werden. Eine entsprechende Initiative von Seiten der „Laien“ steht noch aus: Wann endlich erklären „Laien“,
– welchen Anordnungen sie den Gehorsam aufkündigen und was sie selbst tun,
– an welche Bestimmungen sie sich nicht mehr gebunden fühlen und
– welche Aktionen sie jetzt unternehmen?
– wie weit sie sich zur Kooperation aufraffen und einen effektiven Mittelweg finden zwischen der Entscheidung zu einer konkreten Aktion und der Solidarisierung mit anderen, die einem anderen Ziel folgen?

Es muss der Augenblick kommen, da die Laien sich – qua Gewissenspflicht, Mentalität und innerer Haltung – ebenso aus dem Druck kirchlichen Wohlverhaltens wie aus der Rolle der aufmüpfigen „Laien“ befreien. Reform ist eine Sache freier Christenmenschen, wie Luther dies nennen würde.

3.4 Doppelstrategien einüben

Für die Vielfalt von Taktiken und Strategien gibt es gute Gründe. Zum einen ist die Situation von „Laien“ nie eindeutig, sondern höchst komplex (s. Teil I). Einmal nimmt man sie als Theologen oder als Experten für Finanzfragen ernst, verweigert ihnen aber liturgische Aktionen, ein anderes Mal schätzt man ihr Vermögen, eine Meditation oder ein Abendgebet zu gestalten, glaubt aber, man müsse ihre Theologie kontrollieren. Schließlich möchte man keine Frau am Altar sehen, obwohl man ihre Frömmigkeit bewundert. In jedem Fall ist anders zu reagieren. Immer wird es am besten sein, wenn Dritte auf diese Missachtung aufmerksam machen, die Betroffenen selbst aber ihre eigenen Wege gehen. Zum andern führen wir meist einen asymmetrischen Kampf. Klerikal reagierende Amtsträger (das sind bei weitem nicht alle Pfarrer) sprechen in der Regel eine andere Sprache, haben eine andere Denkwelt und Ideologie im Kopf als reformorientierte Gruppen. Wer weiterkommen will, muss über beide Systeme einen Überblick haben.

Meist argumentieren Reformer mit großem Recht von aktuell verständlichen, säkular einsichtigen Prinzipien her. Sie berufen sich auf die Menschenrechte, appellieren an Geschwisterlichkeit, Gerechtigkeit und Menschenwürde, propagieren Partizipation und Demokratie, wissen als Christen um Barmherzigkeit und eine Leidenschaft für die Armen. Sie pflegen den Austausch von Argumenten, suchen Verständigung im Dialog.

Systemimmanente Hierarchen verstehen diese Sprache nicht. Exemplarisch ist die Erklärung von Kardinal Marx, die Kirche sei kein Fußballclub (s.o.). Der Grund dieser Sprachverwirrung ist einfach. Die Hierarchen argumentieren von einer römisch-katholischen Theorie her (die man auch Ideologie nennen könnte). Ihr innerstes (vor-modernes!) Geheimnis ist – wie schon ausgeführt – das Wissen um eine unfehlbare, von oben eingegossene Offenbarung. Sie sind davon überzeugt, dieses Wissen reiche prinzipiell aus; sie sind ja die ausschließlichen Hirten, Lehrer und Vermittler des Heils. Dieses Wissen wird nicht nur autoritär vermittelt, sondern präsentiert auch autoritäre Inhalt: ein autoritäres Gottesbild, eine autoritäre Kirchenstruktur, ein autoritäres Verständnis von Wahrheit und Rationalität, die alles in eine antimodernistische Atmosphäre taucht, die dem Weltlichen und Laienhaften prinzipiell distanziert, wenn nicht gar ablehnend gegenübersteht.

Deshalb können wir unsere Erfolge sehr steigern, uns vor bitteren Enttäuschungen und unnötigen Illusionen hüten, wenn wir uns in eine Doppelstrategie einüben.
– Einerseits argumentieren wir „modern“, also mit säkularen/säkularisierten, auf die Würde und die Fragen des Menschen bezogenen Werten. Deshalb kümmern wir uns um eine Sprache, die zeitgenössische Christen und Menschen verstehen und nachvollziehen können. Nur in klugen und mit angemessenen Übersetzungen, so meinen wir, können wir die christliche Botschaft der Gegenwart nahe bringen.
– Andererseits sollten wir uns an eine intensive Rückübersetzung unserer Anliegen in die Sprach- und Denkebene der hierarchisch herrschenden Theologie machen und ihren neuscholastischen, autoritären, monologischen und exklusiven Elementen auf den Grund gehen.

Wer z. B. die Ordination der Frau fordert, muss wissen: Dies ist in den Augen der Hierarchen eine unmögliche, unfehlbar irrige Forderung, deren Diskussion ohne Kritik der Unfehlbarkeit unmöglich ist. Deshalb müssen wir versuchen, mit den Hierarchen nicht einfach über die Frauenfrage, sondern über ihren unhistorischen, unbiblischen, d.h. auch irrationalen und theologisch überholten Denkstil ins Gespräch zu kommen. Man kann so zeigen, warum ihre Denklinie schlicht und ergreifend unchristlich ist.

Wer über ihre Amtsführung spricht, kommt nicht weiter, wenn er demokratische Forderungen stellt; Forderungen sind den Bischöfen gegenüber ohnehin sinnlos. Wir sollten vielmehr zeigen, dass unsere Herren Bischöfe – an biblischen und altkirchlichen Prinzipien gemessen – unter schweren Argumentationsdruck geraten. Wie wollen sie denn erklären, dass sie unseren Gehorsam beanspruchen können? Er könnte auch zeigen, wie gründlich der fromme Gedanke der Apostolischen Nachfolge zu einem Mechanismus einer Kette von Handauflegung gekommen ist. Bevor sie uns also auf die Rolle profaner, ortloser und unwissender „Laien“ festlegen wollen, möchten wir wissen, wer sie eigentlich sind.

Wer uns über die Gültigkeit einer Eucharistiefeier und die Vollmacht zu deren Feier aufklären will, soll uns erst einmal zeigen, wie er sein Priestertum von der Schrift her legitimieren will. Er muss sich zunächst sagen lassen, wie wenig seine Theorie von der Botschaft der Schrift inspiriert ist.

Wer den Ausschluss der wiederverheirateten Geschiedenen von den Sakramenten verteidigen will (was immerhin einer Exkommunikation gleichkommt), soll erst einmal erklären, aus welchen Gründen er die Ehe – wie Taufe, Eucharistie und Sündenvergebung – für ein zeitlos bindendes Sakrament hält, nachdem diese Theorie offensichtlich durch einen Übersetzungsfehler von Eph 5,32 zustande kam. Sollten wir nicht bei Luther in die Schule gehen?

Letztlich, so meine Schlussfolgerung, wird unsere Strategie nur durchschlagend, wenn sie die Lehramts- und Autoritätsansprüche der Bischöfe prinzipiell relativiert und biblische Gegenmodelle liefert, die Modelle der Hierarchie kundig in Frage stellt und eine biblische Spiritualität dagegen setzt. Dadurch gewinnt die Diskussion zwar an Härte, aber auch an Klarheit. Vielleicht erweisen wir den Hierarchen damit einen Dienst. Denn im Kern ist die aktuelle Linie der Hierarchie nicht der psychischen Sturheit einzelner Bischöfe oder des Papstes geschuldet (obwohl sie allemal Sturheit auszeichnet), sondern einem komplexen, mit vielen Wassern gewaschenen, in sich geschlossenen Denksystem. Wir müssen es kennen, um es zu gelassen und mit innerer Distanz bekämpfen und entlarven zu können.

 

 

3.5. Autoritätsansprüche gegebenenfalls missachten und entlarven

Leider sind viele reformorientierte Mitchristen immer noch einem alten und unbiblischen Autoritätsmodell verpflichtet. Z. B. hinterfragt es nicht die Theorien von der Apostolischen Sukzession und dem spezifischen Amtsauftrag, den die Klasse einiger Erwählter sakramental weitergibt. Weder biblisch noch historisch, noch gemäß altkirchlichen Rechtsprinzipien lassen sie sich aufrecht erhalten.

Die gegenwärtige Klasse der Hierarchen argumentiert dagegen sakramentalistisch, verachtet also die Wirkung des prophetischen Wortes. Sie vergessen dies: Heiligkeit lässt sich nie und nimmer an bestimmten Personen und Sachen fixieren, wie sie das immer noch tun. Heilig sind Ereignisse, die uns aus ihrer eigenen, nicht aus zugeschriebener oder legitimierter Vollmacht überfallen. Deshalb stehen Gläubige den Ordinierten in nichts an Heiligkeit und am Urteil über Heiligkeit nach. Wir haben um nichts zu bitten, nicht demütig zu fordern, sondern festzustellen und die Kleriker zum Gespräch einzuladen.

Die gegenwärtige Klasse der Hirten hat vergessen, dass – gut katholisch – der Leiter einer Gemeinschaft von allen zu wählen ist. Kaum einer, in Deutschland vielleicht kein einziger der gegenwärtigen Kirchenleitung, beansprucht seine Bischofsrechte zu Recht. Wir können von ihnen verlangen, sich zu legitimieren. Damit soll keine Revolution vom Zaun gebrochen werden. Aber ein Bewusstsein ist zu schaffen, dem gemäß Christen sich von diesen Herren nicht mehr erschrecken, gar im Gewissen binden lassen. Allmählich wird der Boden für dieses Bewusstsein bereitet. Ihre Autoritätsansprüche sind prekär geworden und können nur noch durch überzeugende Argumente wirken.

Wir unterlaufen diese Autorität, indem wir sie gegebenenfalls dulden, gegebenenfalls ablehnen, in jedem Fall ihre Geltung unter eine Frist stellen.

Schluss: Hoffnung auf Überwindung des Systems?

Die Zeit arbeitet für uns. Deshalb meine ich: Mit Fug und Recht können wir auf die Überwindung des aktuellen Systems hoffen. Schon jetzt sind die Bischöfe in Erklärungsnot und wie das Experiment des gesamtdeutschen Gesprächs zeigt, beginnen sie, mit unaufrichtigen Mitteln um unsere Gunst zu buhlen. In manchen Diözesen geht es sehr schleppend voran, in anderen kann es nur ungewollte Effekte erzielen. Umso wichtiger ist es, dass die Reformkräfte, wo immer möglich, gemeinsam, argumentativ und besonnen handeln, ohne sich weiterhin von den Beschlüssen und Reaktionen der Hierarchen abhängig zu machen.

Der gegenwärtige Kirchenskandal besteht darin, dass ausgerechnet derjenige, der sich Nachfolger des Petrus nennt, für die Belange einer mit der Welt solidarischen Kirche kein Gehör schenkt. Er ist durch nichts zu entschuldigen, weil seine Probleme mit den westeuropäischen Kirchen keine Sonderprobleme sind. Es sind vielmehr exemplarische Probleme, mit denen früher oder später die Kirchen aller Kontinente und Länder konfrontiert werden.

Unsere Frage also: Wie lange noch, Benedictus, missbrauchst Du unsere Geduld?
Und meine Furcht: Die Füße der Totengräber stehen vor der Tür (Apg 5,9).

(Vortrag 14.07.2012)