Vom Sündenfall zur Erbsünde – Bemerkungen zum Katechismus der Katholischen Kirche

Dem für Katholiken hochoffiziellen „Katechimus der Katholischen Kirche“ ist es nicht gelungen, den umstrittenen Glaubenssatz von der Ersünde der Menschheit im Blick auf die gegenwärtigen Menschheitsfragen zu erschließen. Im Gegenteil, Der Katechismus verwechselt eine theologische Reflexion aus dem 5. Jahrhundert mit einer elementaren Glaubensverkündigung.

 Einleitung: Verschobene Akzente

Dem westlichen Kulturkreis haben sich nur wenige biblische Erzählungen so tief eingeprägt wie die Geschichte von Adam und Eva, die im Glück des Paradieses lebten, die Frucht vom Baum der Erkenntnis genossen und deshalb in eine feindliche Welt vertrieben wurden. Von nun an waren sie auf den Tod hin bedroht. Diese Geschichte erfüllt alle Bedingungen eines erfolgreichen und wirksamen Mythos. Sie provoziert vitale Phantasien von Glück und Unheil, von Genuss und Sexualität. Sie spiegelt (modern ausgedrückt) die zerrissene Grundsituation des Menschen. Sie kennt keine historische oder kulturelle Begrenzung. Zudem konterkariert sie den vorangehenden Mythos: die Schöpfung der Welt durch Gott, der im Chaos Inseln der rettenden Ordnung errichtet. Von jetzt an wird die Welt nicht nur vom Tohuwabohu des Anfangs, sondern zugleich von den inneren Abgründen der Menschheit bedroht. Die konkrete Geschichte des Unheils beginnt dann mit dem Brudermörder Kain und kulminiert im Untergang der ganzen Menschheit in den Wassern der Sintflut. Kein Mensch kann sich von diesem Schicksal freihalten. Nur die Arche des Noah, zerbrechliches Zeichen der Zukunft, sollte die Katastrophe überstehen. Doch diese Arche trägt wiederum die ganze Vielfalt des Lebens mit seiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Ordnung in sich. Der Kreislauf des Hoffens lässt sich nicht durchbrechen. In der christlichen Tradition wird dafür Jesus Christus, der Auferstandene, zum zentralen Symbol.

Diese Konstellation der Ur-Mythen hätte auch im Christentum zur großen Imagi-nation einer Welt werden können, die immer neu bedroht ist und dennoch ihre Hoffnung, Freiheit und Versöhnung nicht aufgibt. Aber die Akzente wurden jetzt anders gesetzt. Jetzt tritt Christus, der Neue Adam, dem Ersten Adam gegenüber: „Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht.“ (Rom 5,19). Diese neue Perspektive reduzierte die biblischen Ur-Mythen zu Geschichten von Zerfall und Verfehlung. Dabei ließ sich die Erfahrung von kosmischer Bedrohung ebenso wenig verdrängen wie das labile Gleichgewicht einer Welt, die von Unheil geprägt ist. Es ist eine Welt, die die Freiheit des Menschen zerstört, bevor sie überhaupt zu sich kommen konnte.

Diese Erfahrung einer „gefangenen Freiheit“ (Ricceur) sowie einer Leidenschaft zur Selbstzerstörung um des Guten willen wurde bald auf die Frage moralischer Schuld fixiert. „Sünde“ und „Erb-Sünde“ (korrekter vielleicht: „Ur-Sünde“, „peccatum originale“) werden zu Schlüsselbegriffen für Antike, Mittelalter und Neu-zeit. Paulus spielte in diesem Prozess westlichen Denkens ebenso eine Rolle wie Augustmus, der in diesem Erfahrungskomplex ein ebenso umfassendes und widerspruchsvolles Gleichgewicht erreichte. Ricoeur beschreibt die Erbsündentheorie als einen rationalisierten Mythos und bringt damit deren Ambivalenz auf den Punkt. Der Katechismus der Katholischen Kirche (KKK; 1993 in Rom erschienen und auf der ganzen Welt verbreitet) ist vielleicht der letzte umfassende Versuch, diese Theorie in ihrer alten Form zu stabilisieren. Insofern ist er ein Katechismus der westlichen Kultur geblieben.

I. Unbegriffene Geschichte

Die Frage, die der KKK auf zehn Seiten (den Nummern 386-421) abhandelt, ist einfach und wohl bekannt: Wenn Gott unendlich gut ist und wenn er eine gute Welt geschaffen hat, woher kommt das Böse? Auch die Antwort ist nicht unbekannt, wenn auch formal: Das Böse kommt von der „Sünde“. Was aber ist die Sünde? Sie ist, so der erstaunte Leser, eine Wirklichkeit, die nur im Licht der Offenbarung zu begreifen ist (I, 386-390). Sie setzt allerdings eine lange Geschichte voraus: den Fall der Engel, insbesondere Satans (391-395), und den Fehltritt von Adam und Eva. Seitdem sind wir dem Fluch verfallen. Doch gibt es Hoffnung, dass wir durch Christus, den Gekreuzigten, aus der Sünde befreit werden (410-412).

Wie aber ist diese mythische Rede zu entschlüsseln? Welche Bedeutung haben in diesem Drama Adam und Eva? Kann man behaupten, die gegenwärtigen Opfer des Bösen könnten den Umfang und die Tragweite der Bosheit nicht ermessen? Diese Texte machen einen überkurzen Eindruck, der die Sache eher verhüllt als eröffnet. Doch bevor wir unsere Fragen an den KKK formulieren, sind seine Absichten und die Gründe dieser Konzeption zu verstehen.[1] Dabei werde ich auf Aufbau und formale Mängel des Textes hier nicht eingehen.[2] Ich formuliere in der Fachsprache der Theologen eine These, die später hoffentlich verständlich wird. Sie lautet: In seiner universalistischen Zielsetzung hat der KKK versucht, einen Kompromiss zwischen vier Aspekten zu finden, die sich nur mit Mühe miteinander versöhnen lassen. Ich nenne die Aspekte narrativ, historisch, anthropologisch und christlich-soteriologisch. In diesem Versöhnungsversuch ging ein fünfter Aspekt verloren: die konkrete Erfahrung der heute lebenden Menschen.

1.1 Die Geschichte der Menschheit mit Gott

Der narrative Aspekt ergibt sich aus der literarischen Art der biblischen Ge¬schichte (Gen 1-11) selbst; die dramatischen Berichte von Adam und Eva bilden die narrative Inspiration (396-401). Gewiss, der Text ist von systematischen Modellen durchzogen, die über Genesis 3 weit hinausgehen. So berichtet die biblische Geschichte, streng genommen, von keinem „ersten“ Sündenfall, auch von keinem Menschen, der Gott schlichtweg verachtet, der Verstandesschwäche verfällt oder einer ganz und gar sinnlosen Existenz unterworfen wird (399). Solche verengende Interpretationen schöpfen den konkreten Reichtum der Erzählung nicht aus. Aber die zusammenfassende Perspektive übernimmt ganz die Dynamik der Geschichte: Es geht um die grenzenlose „Invasion“ des Bösen in Geschichte und Welt (401; Gen 4-11).

Aus dieser narrativen Perspektive mag man auch die Geschichte vom Fall der Engel verstehen (391-393), der das Element der Unfreiheit und des Ausgeliefertseins an das Böse in kosmische Dimensionen einbringt. So, symbolisiert die Gestalt des „Satan“ im NT das Böse als außerordentlich wirksame und abscheuliche Wirklichkeit, die wir in Menschheit und Geschichte täglich erfahren. Die biblischen Texte auf elementare Weise zu lesen, zu besprechen und mit der eigenen Situation zu konfrontieren, das ist noch immer ein fruchtbarer Weg, sich dem Geheimnis des Bösen zu nähern.

1.2 Ein historisches Protokoll?

Wie verstehen wir narrative Texte jedoch in einer Kultur, die eine jede Erzählung als Wiedergabe eines vergangenen Geschehens interpretiert? Der KKK sieht das Problem. Er spricht von einer „bildreichen Sprache“ (390) und schreibt dem „Baum der Erkenntnis als von Gut und Böse“ eine sinnbildliche Funktion zu (396). Diese Signale weisen daraufhin, dass auch Engelfall und Sündenfall nicht als eine historische Erinnerung zu lesen sind. Dennoch wird insgesamt der Eindruck erweckt, als biete die Bibel Informationen über eine vergangene Zeit.[3] Die Historisierung der Adamserzählung rückt auch den Fall der Engel (391-395) in ein historisierendes Licht. Zunächst wird von Adam als dem Menschen geredet (398), später jedoch führt die „Weitergabe“ (!) der Erbsünde zu einer historisierenden Betrachtung. Es wäre auch hier besser gewesen, konsequent die exegetischen Standards und Adam und Eva als kollektive Figuren (der Mensch, aus Erde gemacht, und die Quelle des menschlichen Lebens) für das zu begreifen, was in uns allen geschieht.[4]

Gerade diese Historisierung bringt es ja mit sich, dass die „Zeit“ nach dem Sündenfall keine Dynamik mehr kennt, sondern schließlich als ein „Zustand“ (404)[5] beschrieben wird. Die Beschreibung der „Erbsünde“ selbst führt schließlich zu einer rein negativen, neuplatonisch inspirierten Definition: Die menschliche Natur [!] ist ihrer Heiligkeit und Gerechtigkeit beraubt; „Dieser Mangel wird ‚Erbsünde‘ genannt“ (417). Die Folge dieser Sünde ist ein „gefallener Zustand [!]“ (404), der Mensch, Welt und eine Geschichte betrifft (408), die eigentlich schon stillgelegt ist, bevor sie erst richtig beginnt. Es verwundert nicht: Dieses seltsame Schweben zwischen Historisierung und ungeschichtlichem Natur-Denken taucht immer dort auf, wo sich der KKK auf offizielle Lehrstücke beruft. Man hat den Eindruck, als könnten sich die Autoren an diesen Punkten nicht von ihren eigenen Denkvorgaben befreien.

1.3 Konkurrenz zwischen Gott und Mensch

Die christliche Tradition hat die biblischen Texte einem Interpretationsprozess von nahezu 2000 Jahren unterzogen und mit verschiedenen anthropologischen Modellen überlagert. Ein Schlüsselrolle spielt dabei die Anthropologie der westlichen Antike, die sich namentlich auf Augustinus stützt und später weiterentwickelt wird. Die wichtigsten Kennzeichen dieser Anthropologie sind ein unhistorisch metaphysisches Bild von der menschlichen „Natur“, ein Konkurrenzmodell zwischen sündigem Menschen und vergebendem Gott. Hinzu kommt in wachsendem Maße eine ausschließliche und ausschließende Konzentration auf die göttliche Heilsoffenbarung. Diese Kennzeichen führten im Text des KKK zu einer Gedankenführung, die die biblischen Impulse eher verdrängt als entdeckt, her-ausarbeitet oder interpretiert. Das Konkurrenzmodell zeigt sich als Unterordnung und Abhängigkeit.[6] Unter dieser Voraussetzung entsteht keine positive Auseinandersetzung mit der Freiheit. Zwar ist die Erbsünde keine „persönliche Missetat“, aber sie bleibt „im übertragenen Sinne“ eine Sünde, „die durch Fortpflanzung an die ganze Menschheit weitergegeben wird“ (404). Diese Beschreibung nimmt die Ausgangspunkte biblischer Erfahrung nicht auf, behält die konkreten Umstände der biblischen Erzählung nicht im Gedächtnis, berücksichtigt nicht die dynamische und relationale Grundsituation von Geschichte und menschlicher Existenz.

1.4 Nur in Jesus Christus erkennbar?

Folge dieses historisierenden, zugleich ungeschichtlichen, auf den Buchstaben kirchlicher Lehre bezogenen Ansatzes ist eine extreme Konzentration auf die christliche Lehre. Sie wird schärfer als in vergleichbaren früheren Dokumenten herausgestellt. Nur das scheint zu gelten, was in kanonischen Texten formuliert und verbürgt ist. So werden Begriffe wie „Geheimnis“ oder „Mysterium“ im Übermaß verwendet (385; 404); die Erbsündenlehre wird sogar zur „‘Kehrseite‘ der frohen Botschaft“ erklärt (389); das wahre Wesen der Sünde könne ohne die christliche Botschaft nicht erkannt werden (387)[7]. Selbst Israel könne „den letzten Sinn dieser Geschichte nicht erfassen“ (388). Mit dieser extremen Konzentration auf Jesus Christus wird das Leiden der ungezählten, Opfer im Grunde missachtet. Die Behauptung, man müsse „Christus als den Quell der Gnade erkennen, um Adam als den Quell der Sünde zu erkennen“ (388), stellt die biblischen Zusammenhänge auf den Kopf. Die Kirche postuliert in Sachen Sünde ein erkenntnistheoretisches Monopol, zumindest ein hermeneutisches Privileg und vereinnahmt zu eigenen Gunsten damit eine Aussage des Paulus (Röm 5,20), die in Wahrheit alle Grenzen durchbricht: „Wo die Sünde groß wurde, ist die Gnade übergroß geworden“ (386; 402). Wer einen solchen Satz zur eigenen Legitimation instrumentalisiert, hat dessen befreienden Zungenschlag vermutlich nicht begriffen. Solche Instrumentalisierung ist wohl auch der Grund, weshalb im KKK der Satz von der Erbsünde ein blasses und merkwürdig historisiertes Postulat, eben ein Unglücksfall aus der Vorzeit bleibt. So hat der KKK schließlich nicht begriffen, was Geschichte und Geschichtlichkeit für die jeweilige Gegenwart bedeuten.

II. Begriffene Sprache

Bei aller Kritik sollte jedoch das- Problem klar werden, das sich dahinter verbirgt. Natürlich wurde der KKK in den analysierten Passagen zum Opfer eines Rationalismus, zu dessen Überwindung er angetreten ist. Was aber heißt das konkret? Aus systematisch-theologischer Perspektive geriet das Problem der Erbsünde in der Neuzeit zu einem der komplexesten und sensibelsten Themen des christlichen Glaubens überhaupt. Nach außen kämpfte man mit den vielfältigsten (historischen, anthropologischen, psychologischen, sozialen, ja selbst politischen) Fragen zur Standortbestimmung in einer säkularisierten Welt. Nach innen schien es, als würden die alten Pfeiler des christlichen Glaubens zerbrechen.

Zwar gilt die Sünde nach wie vor als eine freie und verantwortliche Tat, zugleich aber geriet diese Freiheitserfahrung immer mehr unter Druck. Freiheit als solche gibt es nicht. Innerhalb und außerhalb des christlichen Glaubens, in der biblischen Tradition und in anderen religiösen Traditionen wird das Böse als eine Macht erfahren, die die menschliche Freiheit einschränkt und vernichten kann. Wie ist von dieser „gefangenen Freiheit“ unter den Bedingungen der Gegenwart noch zu sprechen? Ist es eine Freiheit, die sich selbst vernichtet? Ist es eine Scheinfreiheit, die nur noch Freiheit vortäuscht? Oder lässt sich dieses Verhältnis weder dialektisch noch in linearen Verhältnissen beschreiben, vielleicht nur noch symbolisch andeuten oder im Plot von Geschichten als Scheitern und Hoffnung nachvollziehen? Bedeuten Freiheit und Freiheitsverlust nicht Dimensionen, die einander ständig durchdringen? Wie entfernt aber sind solche Modelle von einer in sich geschlossenen, „sündigen“ Natur, der dann ‑ sozusagen von außen ‑ Gottes übernatürliche Gnade entgegentritt?

2.2 Das Drama der Freiheit

Im KKK spielt die Unterscheidung zwischen der sündigen menschlichen „Natur“ und Christi Gnade eine wichtige Rolle. Es muss zu denken geben, dass dieses neuscholastische Modell in vergleichbaren Texten entweder nie übernommen (so z.B. im Catechismus Romanus) oder schon lange wieder aufgegeben ist.[8] Im Apostolischen Glaubensbekenntnis und in den Glaubensbekenntnissen der katholischen Liturgie wird der Sünde nicht einmal eine isolierte Aufmerksamkeit gewidmet. Erst der zehnte Glaubensartikel handelt von der Sündenvergebung. Viele zeitgenössische Interpretationen des Credo folgen diesem Aufbau auch (Pannenberg, Küng][9]. Andere Einleitungen in die christliche Glaubenslehre besprechen sie in erster Linie als „Schuld“, d.h. als ein anthropologisches Phänomen.[10]  Eine vergleichbare Bewegung lässt sich in einigen Katechismustexten finden.[11] Damit wird die Verdinglichung von Sünde und Erbsünde vermieden, der der KKK zu erliegen droht. Auch in kirchlichen Dokumenten sind andere Lösungen möglich. So lohnt es sich, das römische Buch mit dem Katholischen Erwachsenenkatechismus (KEK) zu vergleichen, der 1985 von den deutschen Bischöfen herausgegeben wurde. Er übernimmt die narrative Dynamik der biblischen Erzählungen ungleich stärker[12] und interpretiert „Urzustand““ und Paradies (Gen 2,8-24) als Plan und Ziel Gottes: Gott will „das Leben und nicht den Tod; er verabscheut Gewalt, Unrecht und Lüge, er will nicht, dass Menschen leiden, er will das Glück der Menschen in der Gemeinschaft mit ihm“ (128). Die soziale Dimension der Sünde wird illustriert und zugleich einsehbar. Nachdem gemäß Genesis alle Menschen gesündigt haben bzw. in Unrecht verstrickt sind, erscheint Christus als ein neuer Beginn, in dem im Kampf gegen das Böse ein Wendepunkt erreicht ist (Rom 5,12-21). Die Formulierungen machen deutlich: Dieser Katechismus schaltet die menschliche Freiheit nie einfach aus, sondern zeichnet sie im Prozess ständigen Bedrohtseins. So arbeitet er zugleich ein ganzes Netzwerk von hermeneutischen Hinweisen heraus, die sich alle in der Spannung von Kritik und Ermutigung, Warnung und Bestätigung, Fluch und Segen, Strafe und Sorge, Angst und Hoffnung bewegen und zeigen wollen, dass „in den Ordnungen von Natur und Kultur etwas von Gottes Heilswillen für alle Menschen deutlich“ wird (138).

Vor diesem Hintergrund wird dann die Erbsünde nicht, wie der KKK es tut, als Vererbung einer ersten Sünde, sondern als eine „Situation des Unheils“ interpretiert, in die sich Christen solidarisch einfügen (134) und so ‑ unter Berufung auf 1 Joh 1,8 ‑ gegen naiven Optimismus ebenso gefeit sind (136) wie zu selbstkritischer Beurteilung aufgerufen werden: „Denn ich begreife mein Handeln nicht. Ich tue nicht das, was ich will, sondern das, was ich hasse … Dann aber bin nicht mehr ich es, der so handelt, sondern die in mir wohnende Sünde“ (Rom 7,15, zit. S.134). Ich verstehe diese Darstellung als eine gelungene und heute verständliche Interpretation, die in den biblischen Texten nicht eine Darstellung vollzogener Fakten, sondern die Imagination des großen Freiheitsdramas entdeckt, das Gläubige und andere täglich umtreibt und zu immer neuen, jeweils konkreten Antworten inspiriert. Bleibt nur noch ein formales Problem: Es fällt auf, dass beinahe alle Verweise auf die offizielle kirchliche Lehre im Kleindruck gesetzt sind.[13] Es hätte den Lesern gut getan, hätte man die Gründe für solche Relativierungen auch deutlich genannt.

2.3 Reflexion statt Verkündigung

Einen letzten Hinweis entdecke ich in zwei weiteren Dokumenten, dem Glaubensbuch der Belgischen Bischöfe (1987) und dem Neuen Katechismus (1966) aus den Niederlanden. In seinem ersten Teil folgt das Glaubensbuch (wie der altehrwürdige Catechismus Romanus [1566]) streng den Glaubensartikeln des Glaubensbekenntnisses; die Erzählung vom Sündenfall wird kurz paraphrasiert. Erst später, im Rahmen des Bußsakraments, wird sie wieder mit dem Hinweis aufgenommen: wir Menschen können uns mit Gott versöhnen lassen. Der Catechismus Romanus bespricht die Sünde im Rahmen der siebten Vaterunser-Bitte. Der Neue Katechismus behandelt die Thematik nicht als Teil einer theologischen Systematik, sondern in seinem Kapitel zur Situation des Menschen. Dort geht es um die „Macht der Sünde“ (304)[14], um „dieses große, gemeinsame, unausweichliche, aber doch schuldhafte Unvermögen zur Liebe“ (306). Die Sünde ist eine „Konstante in der Menschengeschichte“, doch Gott lässt den Menschen nicht allein (309)[15].

So illustrieren diese Bücher aufs beste: Die Theorie von der Erbsünde gehört nicht in die Glaubensverkündigung, sondern in die Glaubensreflexion. Wer diese Unterscheidung nicht wahrnimmt, nimmt die biblischen Erzählungen in den Würgegriff einer reflexiven Rationalität, macht sie zu geistlosen Buchstaben und verdrängt deren narrative, vielleicht symbolische, in jedem Fall imaginative Kraft. Statt für unser Weltverständnis Hilfe zu sein, geraten sie zum autoritären Lehrzwang und zur verdinglichten Aussage von etwas, das dann „die Erbsünde““ genannt wird.

Schluss: Die neue Aufgabe

Kommen wir zum KKK zurück. Das Thema „Sünde und Sündenfall“ gehört zu den zentralen und zugleich zu den umstrittensten Kapiteln gegenwärtiger Glaubensverkündigung in der westlichen Kultur. In keinem anderen Thema zeigt sich so scharf, wie sich unser Verständnis von Mensch und Welt in den Fallstricken der eigenen Vergangenheit verfangen kann.[16] Der Antipelagianismus aus Augustins Zeiten hat zu einer theologischen Diskriminierung der menschlichen Freiheit geführt[17]: Das Schuldsyndrom der Neuzeit hat zu einer schlummernden Selbstverachtung der Gläubigen geführt.[18] Die Unterscheidung von „Natur“ und dem „Übernatürlichen“ führte dazu, dass die menschliche Freiheit und Gottes Gnade nicht mehr aufeinander bezogen wurden. Die Frage der „Weitergabe“ dieser Sünde hat Leiblichkeit und Sexualität in ein verderbliches Licht gerückt. Es ist Zeit, dass sich die Theologie gründlich aus diesen Fesseln befreit. Die Rede vom Menschen als Sünder hat in Theologie und Glaubensverkündigung also nicht in erster Linie eine analytische oder deskriptive, sondern eine prozessuale, eine illokutionäre und evokative Aufgabe. Es geht um Schutz und Situierung menschlicher Freiheit, die immer eine Freiheit in Grenzen und Scheitern ist. Genau deshalb ist sie zu schützen und zu ermutigen.

In der Theologie des Westens gibt es inzwischen respektable Versuche, den christlichen Glauben von der Zentralkategorie der Freiheit her neu durchzudeklinieren und jede Konkurrenz zwischen Gottes Willen und menschlicher Freiheit zu widerlegen. Gewiss werden damit viele Widersprüche zwischen biblischen und neuzeitlichen Menschenbildern aufgearbeitet. Doch sollten wir uns der Grenzen dieser Versuche bewusst bleiben. Solange Freiheit nämlich nur abstrakt ‑ als Wesensbestimmung des Menschen oder als Möglichkeitsbedingung der Subjektivität ‑ gedacht und nur als Gegenstand der Reflexion durchgearbeitet wird, wird sich in einer Welt von Regeln und Zwängen konkrete Freiheitserfahrung nicht einstellen. Deshalb sollte die westliche Theologie bei emanzipatorischen Theologinnen und Theologen in die Schule gehen. Denn sie lassen sich über Freiheit dort belehren, wo konkrete Befreiung schmerzlich vermisst wird oder geschieht. Wer auch nur einmal mit unüberwindlicher, mit gesellschaftlich übermächtiger und politisch tödlicher Unfreiheit konfrontiert ist, bedarf zur „UrSünde“ kaum noch einer abstrakten Belehrung. Er wird sie als ein Strukturelement begreifen, das kontrapunktisch all unser Reden über Gott, die Menschen und ihr Heil durchzieht. Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb in den Glaubensbekenntnissen erst dort vom Bösen die Rede ist, wo es vergeben wird. Zuvor nämlich erinnern sie an die Geschichte Jesu von Nazaret, der Schmerz und Tod als ein sinnloses Geschehen erfuhr.

Anmerkungen

[1] Zur Gesamtproblematik siehe ausführlicher: Hermann Häring, Zonde en zondeval, in: A. Brants/H. Witte (Hg.), Katholiek geloof gewogen. De Katechismus van de katholieke kerk over de geloofsbelijdenis, Zoetermeer 2003,198-212.

[2] Der einleitende Text (385) enthält Anzeichen großer Eile und scheint erst hinterher geschrieben zu sein. Genau genommen trifft keines der drei Schriftzitate auf die Frage des Bösen zu, ebenso wenig einer der Hinweise. Augustinus fand den „Ausweg“ aus dem Problem nicht in seiner Bekehrung, sondern im philosophischen Begriff der privatio boni.

[3] Die historisierende Perspektive wird auch nicht durchbrochen, wenn der Begriff „Urereignis“ (390) oder ein Text des II. Vaticanums (Gaudium et spes 13, par. 1) eingeführt wird. Es ist die Rede von der „ersten Sünde des Menschen“ (401), von einem „Urereignis, das zu Beginn der Geschichte des Menschen stattgefunden hat“ (390). Immer noch wird von den „Stammeltern“ gesprochen (390; 407), die Menschen sind deren „Nachkommen“ (404; 405). Die Sünde wird „durch Fortpflanzung weitergegeben“ (404). Die Geschichte vom Engelfall (391-395) wird der Paradiesesgeschichte vorgeordnet, der Diskurs des Gesamtkapitels dadurch unterbrochen. Auf 390 hätte problemlos 397 folgen können.

[4] Dann verschwinden auch die Probleme des Monogenismus (= Herkunft der ganzen Menschheit aus einem Elternpaar) sowie die rational verengende Frage: Wie kann eine Sünde durch Fortpflanzung weitergegeben werden?

[5] Der Begriff „Zustand“ ist eine unangemessene Übersetzung für die Grundsituationen der „ursprünglichen Heiligkeit“ bzw. des späteren Heiligkeitsverlusts (399, 400). Auf die komplexe theologische Reflexion, die dieser Begriff transportiert, sei hier nicht eingegangen.

[6] Der KKK interpretiert die Übertretung des Verbots durch Eva und Adam unmittelbar und vorbehaltlos als Ungehorsam und Vertrauensmangel gegenüber Gott [397). Die Entscheidung für sich und die Entscheidung für Gott erscheinen als unversöhnliche Gegensätze (398). Sogar das Bild von der Freundschaft mit Gott wird als (freie) Unterordnung interpretiert (396).

[7] Genannt werden die „Geheimnisse des Glaubens“ (385), die „dunkle Wirklichkeit“ der Sünde (386), das „Mysterium Christi“ (389) neben dem „Geheimnis“ göttlicher Zulassung (395) und der Erbsünde, „das wir nicht völlig verstehen können“ (404), die Ankündigung des Bösen „auf geheimnisvolle Weise“ (410). Dem entspricht der wiederholte Verweis auf die Offenbarung (385; 387; 388; 389; 390; 404; 406), aus Gottes Heilsplan (395), den Heiligen Geist (388), auf „die Schrift und die Überlieferung der Kirche“ (390) sowie auf deren Lehre (391; 403; 411).

[8] Wichtig wäre hier eine Analyse des Heidelberger Katechismus, der mit der Frage beginnt, wie groß meine Sünde und mein Elend sind.

[9] Hans Küng, Credo. Das Apostolische Glaubensbekenntnis – Zeitgenossen erklärt, München 1992; Wolfhart Pannenberg, Das Glaubensbekenntnis, ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der Gegenwart, Gütersloh 1972.

[10] Auf dieser Grundlage wird die „Sünde“ dann besprochen als die Übertretung von Gottes Willen: Richard P. McBrien, Catholicism, Minneapolis 1980; Otto Hermann Pesch/Albrecht Peters, Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt 1981, 169-221; Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 1976, 113-121.

[11] Verschiedene europäische Katechismen der fünfziger Jahre folgten noch der narrativen Dynamik der biblischen Berichte. Der Neue Katechismus der Niederländischen Kirche erfuhr römische Kritik, weil er (a) das Böse unmittelbar in einen allgemeinen anthropologischen Zusammenhang rücke, und weil er (b) die historische Dimension [!] einer ersten [!] Sünde von Eva und Adam nicht berücksichtige. Exakt diese Kritik trifft nun den KKK aus der Gegenseite. Über die Sünde wird in isolierter Weise gesprochen und die Historisierung der Fallgeschichte wird ‑ entgegen exegetischer Erkenntnis ‑ wieder einmal forciert.

[12] Zahlen in Klammern bezeichnen hier die Seitenzahl.

[13] Es geht um Fragen wie „Urzustand“, Erbsünde und deren Folgen, antipelagianische Reaktionen sowie Diskrepanzen zwischen katholischen reformatorischen Lösungen.

[14] Zahlen im Klammern bezeichnen die Seitenzahl der niederländischen Originalausgabe.

[15] Als erster katholischer Katechismus hat Der neue Katechismus den Blick auf andere Religionen und Weltanschauungen (Hinduismus, Buddhismus, Islam, weltanschaulicher Humanismus und Marxismus) ausgeweitet (318-325); damit werden die Perspektiven einer damals traditionell bürgerlichen Christlichkeit entschieden aufgebrochen.

[16] Albert Görres/Karl Rahner, Das Böse. Wege zu seiner Bewältigung in Psychotherapie und Christentum, Freiburg, 1982; Michael Sievernich, Schuld und Sünde in der Theologie der Gegenwart, Frankfurt 1982.

[17] Hermann Häring, Die Macht des Bösen, Gütersloh/Zürich 1979; ders., Das Böse in der Welt. Gottes Macht oder Ohnmacht?, Darmstadt 1999.

[18] Jean Delumeau, Le péché et la peur: La culpabilisation en Occident, Paris 1983.


Veröffentlicht in  Concilium 40/ (2004), 19-27