Ein Intellektueller auf dem Papstthron? – Zum geistigen Profil von Joseph Ratzinger

Bei all seinen intellektuellen Leistungen muss sich J. Ratzinger an der Frage messen lassen, ob er den Kern der christlichen Botschaft in einen säkularen Diskurs übersetzt, oder ihm die Gottesfrage nur vorwurfsvoll entgegenschleudert. Gibt er auf die großen Erwartungen und Hoffnungen der Menschheit eine konstruktive Antwort?

„Nie war der Intellektuelle wichtiger als in dem Moment,
als seine Epoche zu Ende zu gehen schien.“
[Bering, 586]

Einleitung:
Zwischen absichtslobem Denken und interessengeleiteter Intervention

Die Frage nach den „Intellektuellen“ ist heute so spannend wie prekär. Dringender denn je werden unabhängige Welt- und Handlungsinterpreten mit der Fähigkeit gesucht, internationale Diskurse von gesellschaftspolitischem Gewicht zu initiieren, aufrecht zu erhalten und zugleich Maßstäbe für eine zukunftsfähige und humane Menschheit zu entwickeln. Zugleich sind diese Weltinterpreten – selbsternannt oder von anderen auf den Schild gehoben – einer entschiedenen Grundsatzkritik ausgesetzt, denn nur Scharlatane können noch behaupten, sie wüssten über die Welt Bescheid [Bering, 491-537]. Gleichwohl halten wir nach Menschen Ausschau, die den Gang der Welt durchschauen und erklären können, man denke an die hochkomplexen, globalisierten Netze in Politik und Wirtschaft, in Kommunikation und Wissenschaft, die gegenseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten von Kulturen und Zivilisationen, die immer kreisenden Menschen-, Wissens- und Energieströme, dies alles in ihrem Verhältnis zu versinkenden und neu entstehenden Werte- und Normensystemen, die zugleich immer stabilere weltethische Konturen erhalten. Zugleich befürchten wir, dass niemand mehr über ein hochrangiges Experten- und Spezialistentum hinauskommt.

Aber selbst wer diese Grenzen überschreiten und zugleich Gehör finden sollte, müsste sich heute in die Abhängigkeit von Mäzenen, Mentoren und finanzstarken Mediensystemen begeben, die seine Unabhängigkeit sofort bedrohten. Für diese fragwürdigen und massiv bedrohten, zugleich unverzichtbaren Aufgaben sei bislang noch kein anderer, kein Besserer in Sicht gekommen als der „Intellektuelle“, der (so Bourdieu) den notwendigen Spagat zwischen interesselosem Denken und der absichtsvollen öffentlichen Intervention durchspielt [Bourdieu, 45-49]. Zu diesem Schluss kommt Dietz Bering am Ende seines langen Buches über die französische und deutsche Intellektuellendebatte der vergangenen 125 Jahre.[1] Auch Jürgen Habermas sieht es nach wie vor als Aufgabe der Intellektuellen, lebenswichtige Fragen der Gesellschaft aufzugreifen, „auf Sprünge, Entwicklungstendenzen, Gefahren, auf kritische Augenblicke mit Parteinahme und Sachlichkeit, mit Sensibilität und Unbestechlichkeit zu reagieren. Es ist das Geschäft von Intellektuellen, die dumpfe Aktualität bewusst zu machen.“ [Habermas 1979, 9].

Vor diesem Hintergrund geht es hier um Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. (geb. 1927), den Professor der katholischen Theologie (1958), Bischof (1977), obersten Glaubenshüter (1981) und Oberhaupt der katholischen Kirche (2005). Die erste Frage lautet deshalb: Lassen sich die Bemerkungen von Bering und Habermas auch auf den Raum der katholischen Kirche übertragen? Warum eigentlich nicht, möchte man sagen, denn schon immer erhoben Christentum und Kirchen den Anspruch auf eine universale Weltdeutung; nur müssten für ihre Vertreter ebenso strenge Kriterien von Unabhängigkeit, Sachverstand und Meinungsführerschaft gelten wie für andere Intellektuelle. In den offenen Wettbewerb kann prinzipiell auch die katholische Kirche eintreten [Habermas 2002], zudem brächte sie günstige Voraussetzungen mit. Sie umfasst mehr als 1,2 Mrd. Mitglieder und ist in aller Welt verbreitet. Sie umspannt verschiedenste Kulturen und Klassen, hat den Kontakt mit Philosophie und Wissenschaften nie aufgegeben und ist auf allen Kontinenten mit den großen aktuellen Menschheitsfragen konfrontiert. Zudem war ein wohlverstandenes Christentum immer schon an einer humanen Weltgestaltung interessiert, kennt also den gefährlichen Spagat zwischen interesselosem Wissen und konkreter, auf Effektivität bedachter Intervention. Also müsste es unter den Katholiken auch einige Intellektuelle geben, und warum sollte man ihnen, etwa dem hochintelligenten Professor und Kirchenführer Ratzinger, für unsere Gegenwart keine kritische, die kirchlichen Sonderinteressen überschreitende Weisungsfunktion zumuten?

Ist J. Ratzinger also, der bei Vielen als führender Theologe gilt und dem die Führung eines global players anvertraut wurde, ein Intellektueller? Natürlich lässt sich diese Frage nicht mit einem objektiv daherkommenden Ja oder Nein beantworten, denn der Begriff des Intellektuellen ist vielschichtig. Er enthält verschiedenartige Konnotationen, die sich im Disput stets verändern, so etwa im Blick auf den Maßstab der Vernunft (wie in der Aufklärung), auf die Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit (wie seit dem 19. Jahrhundert), auf eine an den Menschenrechten orientierte Politik (wie seit dem Aufkommen der „Intellektuellen“ in der Affäre Dreyfus) oder im Blick auf eine Weltsituation, die von globalen Vernetzungen, Umweltkatastrophen und einer unumkehrbaren Ausbeutung der Welt bedroht ist. Dementsprechend vermischen sich mit den formalen Bedingungen des Intellektuellen (Rationalität, Intelligenz und Sprachfähigkeit) immer auch inhaltlich wertende Komponenten [Geiger, Judt, Winock]. Mal gilt der Intellektuelle als fortschrittlich, mal als fortschrittskritisch, in der Regel als antirassistisch. Oft gilt er vielleicht nur deshalb als links, weil er Neues zu sagen weiß, oder nur deshalb als fortschrittsfeindlich, weil er vor weltklimatischen Veränderungen oder dem Schwinden der Energieressourcen warnt. Zudem hat sich neben dem Linksintellektuellen der Rechtsintellektuelle etabliert [Bering, 526-538]. In jedem Fall bilden sie alle zwischen verschiedenartigen Qualitäten eine „labile Synthese“ [Bourdieu, 45], denn in dieser schwingen immer eine konkrete Weltsituation, eine bestimmte Weltsicht und eine Absicht mit, die jeweils der eigenen Begründung bedarf.

In der konkreten Auseinandersetzung ging und geht es deshalb immer um Kontraste: Sind Intellektuelle engagierte Kenner der Lage oder freischwebende Individuen, echte Mahner oder überhebliche Zersetzer, wehrhafte Denker oder lähmende Pessimisten, aufrechte Demokraten oder destruktive „Pinscher“ (L. Erhardt), denen eine wirtschaftsgerechte Politik nicht passt? Sind es Idealisten oder Entwurzelte, Verfechter von vorwärtsweisenden oder von rückwärtsgewandten Utopien, kurz: Geht es um berufene oder selbsternannte Propheten und wo ordnen wir den erfolgreichen Kirchenmann ein? Eine Beurteilung verlangt Entschiedenheit, denn wer entsprechende Qualifikationen verteilt, positioniert damit sich selbst. Der jeweilige Streit aber kann nur aus seinem Kontext heraus verstanden und entschieden werden.

Ratzinger verstand sich schon früh als ein Theologe für innerkirchliche Fragen, später interessierte ihn das Außenverhältnis der Kirche. Spätestens 1965 beginnt er, die innere Entwicklung seiner Kirche zu beurteilen [Häring 2009, 75-89]. Seit 1968 kritisiert er die Verhältnisse der Bonner Republik [JR 1970], als Glaubenspräfekt (seit 1981) äußert er sich zu unterschiedlichsten Aspekten der Weltsituation. Er weiß zu provozieren und stellt sich damit ins Fadenkreuz der Reaktionen. Hier ordne ich Funktion und Qualität seines Wirkens in vier Spannungsbögen ein, die eine Beurteilung ermöglichen. Die Fragen lauten: (1) Welche säkularen Diskussionszusammenhänge greift der kirchlich orientierte Weltkritiker auf? (2) Von welchen vorgegebenen innerkirchlichen Spannungen lässt er sich bestimmen? (3) In welchem Sinn versucht er, die Kirche zu gestalten? (4) Welche inneren Widersprüche ergeben sich aus seinen spezifischen Positionen?

I. Der Ritterschlag von 1992: Diskussion aus der Distanz

Wer sich mit J. Ratzingers geistigem Profil beschäftigt, begibt sich, wie wir noch sehen werden, in das Spannungsfeld der politischen Moderne, die am Ende des 19. Jahrhunderts mit der Dreyfus-Affäre einen dramatischen Höhe- und Wendepunkt erreichte. Wie hätte sich Ratzinger damals verhalten? Nehmen wir einmal an, er hätte ein Jahrhundert früher, also 1827 das Licht der Welt erblickt und seine kirchliche Karriere angetreten. Dann wäre er 1898, als man sich in Paris zum ersten Mal über „Intellektuelle“ stritt, 71 Jahre alt gewesen. Als Chef des „Allerheiligsten Officium“ und als rechte Hand Leo’s XIII. (1878-1903) hätte er nach Kräften für das Wohl, für die von innen und außen bedrohte Identität seiner Kirche gekämpft und nach Kräften hätte er sich gewehrt, wenn man ihn unter die Intellektuellen seiner Zeit, also unter die demokratisch und menschenrechtlich gesonnenen Verteidiger des Juden Alfred Dreyfus (1859-1935) eingereiht hätte. Wie viele französische Katholiken wäre auch er wohl antisemitisch, antidemokratisch, vielleicht gar royalistisch, promilitärisch und nationalistisch eingestellt gewesen und hätte in den höheren Kirchenkreisen mit den reaktionären Kräften gemeinsame Sache gemacht. Lange sollte man der Kirche das nicht vergessen; so hatte die spätere Trennung von Staat und Kirche (1905: Ratzinger wäre Papst geworden) einen ihrer Gründe im Zerwürfnis über Dreyfus.

1.1 Der Charme des Konservativen

Es war zudem der chauvinistische Katholik Maurice Barrès (1862-1923), der das neue Schlagwort zum Schimpfwort für verantwortungs- und vaterlandslose Gesellen, für abstrakt spekulierende, mit ihrer Kritik alles zersetzende, für entwurzelte Denker und Schreiberlinge erhob, die sich nicht mehr mit ihrem Vaterland, d.h. mit der Ehre ihrer Toten, mit dem Militär und der christlichen Religion identifizierten.[2] Es gehört zur Ironie der Geschichte, vor allem aber zum inneren Widerspruch von Barrès, dass 1906 ausgerechnet er in die (1635 gegründete) Académie française aufgenommen wurde und damit offiziell zum Ruhm geistiger Unsterblichkeit emporrückte. Entgegen einer weit verbreiteten Legende wurde diese Ehre Ratzinger nie zuteil. Aber immerhin nahm ihn 1992 die wesentlich jüngere und weniger bekannte Académie des sciences morales et politiques in ihre Reihen auf, die ebenfalls zur hochgeachteten Dachorganisation des Institut de France gehört. Man sollte die Parallelen zur damaligen Epoche nicht übertreiben, kann aber doch feststellen: Auch Ratzingers Schrifttum – das akademische (bis 1977), lehramtliche (bis 2005) und seitdem päpstliche – ist ebenfalls mit schweren Seitenhieben auf kritische Denker, auf deren philosophische, historische und allgemein wissenschaftliche Leistungen gespickt. An die Stelle nationaler Ortlosigkeit tritt der Vorwurf einer unkirchlichen Gesinnung, an die Stelle geistiger Entwurzelung der Vorwurf einer falschen Aufklärung; mangelnder Respekt vor den Traditionen wird als Enthellenisierung und als mangelnder Sinn für Gottes Geheimnis entschlüsselt. So bleibt unklar: In welchem Sinn hätte man dem Kardinal der römisch-katholischen Kirche den Titel eines intellektuell Rühmenswerten zuerkannt, wie hätte er ihn aufgenommen und würde er sich jetzt selbst zur Klasse der Intellektuellen zählen?

Immerhin war Ratzingers laikale Ehrung für die katholische Theologie kein Novum. Zuvor wurde sie schon seinen konservativen Denkverwandten H. U. v. Balthasar und H. de Lubac zuteil. Die Académie des sciences morales et politiques, diese herausragende Institution eines laizistischen Staates, begrüßte ihn feierlich als einen, gar als „den Theologen der Kirche“, als „Theologen der eucharistischen Kirchenvision“.

Die Laudatio durch den anerkannten Juristen und Politiker Jean Foyer (1921-2008) ruft Erstaunen hervor [JR 1992a][3]: Unkommentiert akzeptiert er die Pauschalkritiken des neuen Mitglieds an einem laizistischen, von Religion und Kirche unabhängigen Staat ebenso wie die wenig demokratiefreundlichen Dokumente zur Befreiungstheologie, die global abweisenden Äußerungen zu Frauenemanzipation, Homosexualität und künstlicher Befruchtung. Mit „tiefer Anerkennung“ preist Foyer, der sich grégorianiste nennt, Ratzingers Einsatz für eine „festliche Liturgie“ und pflichtet dessen Kritik an Basisgemeinschaften bei. Damit wird Ratzingers Rückkehr zur lateinischen Liturgie ebenso gutgeheißen wie dessen massive Verurteilung von lateinamerikanischen, sozialpolitisch engagierten Theologen.[4] Schließlich erinnert der Laudator an eine Bemerkung des provokant konservativen Jean de La Bruyère (1693): Ratzinger besitze nicht nur alle Fähigkeiten und Tugenden des hochgebildeten Dogmatikers Jacques B. Bossuet (1627-1704), sondern sei auch immer zum offenen Dialog bereit; er kenne die Liebe zum theologischen Gegner. Gerade für die letztgenannten Tugenden war der Geehrte weder als Professor noch als Glaubenspräfekt bekannt.

Gewiss, Akte der offiziellen Einführung unterliegen strengen Regeln der Höflichkeit. Dennoch lässt das hier vollzogene Ritual – über alle Gräben zwischen laizistischen und religiösen Institutionen hinweg – ein gemeinsames, tief verankertes konservatives Menschen- und Gesellschaftsbild erkennen, das die installierten Gralshüter französischer Tradition und denJrömischen Neuankömmling verbindet. Zwischen den Ordnungsmodellen des obersten Glaubenshüters und denen eines politisch orientierten, in seiner Tradition verankerten französischen Citoyen (oder doch nur Bourgeois?) wird hier eine erhebliche Schnittmenge deutlich.

1.2 Kirchlicher Anspruch

Der Kardinal zieht als Nachfolger des russischen Menschenrechtlers Andrei D. Sacharow (1921-1989) in die Akademie ein. Seine Antrittsrede bleibt kurz und abstrakt. Aus Sacharows Handeln zieht er die gewiss richtige Lehre, dass für das staatliche Handeln ethische Überzeugungen unverzichtbar sind, doch umrahmt er diese Überzeugung mit einem scharfen Kontrast. Er wendet sich ebenso gegen die „neue Utopie der Banalität“[?] von Richard Rorty wie gegen den „Optimismus“[?] eines Pierre Bayle, der zur Gewinnung eines Ethos an die Praxis des Lebens appelliere. Er selbst beruft sich auf Alexis de Tocqueville, nach dessen Überzeugung die Vereinigten Staaten ihre moralischen Prinzipien dem stets präsenten Protestantismus, also einer religiösen Überzeugung verdanken.

Natürlich bleibt bei einer solchen hochoffiziellen Gelegenheit für detaillierte Argumentationen kein Raum. Dennoch erstaunt Ratzingers undifferenzierte Distanz zu säkularen Diskursen und zur neuzeitlichen Demokratie. Er sieht nicht, wie ein auf dem Prinzip der Majorität aufgebautes System an der „Strenge moralischer Werte“ festhalten kann. Dazu beruft er sich auf die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, obwohl gerade er nicht demokratisch zu Werke ging. So kommt er zum Schluss, dass eine Gesellschaft der Kirche bedarf. Diese

„… hat sich mit der ihr eigenen Freiheit an die Freiheit aller zu wenden, sodass die moralischen Kräfte der Geschichte die Kräfte der Gegenwart bleiben und dass sich immer wieder diese Evidenz der Werte neu erhebt, ohne die eine gemeinsame Freiheit nicht möglich ist“ [JR 1992a].

Dass sich die Kirche für eine freie Gesellschaft einzusetzen hat, kann unwidersprochen bleiben. Erstaunlich ist aber der Alleinvertretungsanspruch, den er der Kirche in Sachen Moral zuerkennt. Ratzinger, der wegen konservativer Tendenzen an der Akademie offensichtlich Wohlgelittene, ermöglicht damit eine anspruchs-, aber auch widerspruchsvolle Verbrüderung, die sich – unausgesprochen – auf vormoderne europäische Werte einigt. Zugleich erteilt er eine Absage an das laizistische Modell derer, die ihn so feierlich begrüßen. Wie sie mit diesem Widerspruch umgehen, entzieht sich dem beobachtenden Blick.

J. Ratzinger reagiert nicht zufällig so. Denn wie er in einschlägigen Äußerungen darlegt, muss Europa zu den Grundsäulen der spätantiken Kirche und damit des Hellenismus zurückkehren [JR 2000b, vgl. JR 1991].[5] Konsequent ignoriert er das Judentum und den Islam, die Europa lange Zeit mitbestimmten. Er distanziert sich von der Reformation und der Aufklärung, vom staatspolitischen Umbruch der Französischen Revolution und – ohne jede Differenzierung – von allen postmodernistischen Tendenzen. Im Kampf gegen die Enthellenisierung der europäischen Kultur lehnt er jede Form von „Entmythologisierung“ [JR 2006a] und die „Diktatur des Relativismus“, also den Pluralismus ab [JR 2005b].[6] Wiederholt beklagt er das hoffnungslose Hypothesendickicht, das die historische Bibelkritik hinterließ [Häring 2008] und einen allgemeinen Orientierungsverlust, der aus dem Glaubensverlust erwachse. Er agiert gegen den

„merkwürdigen, und nur als pathologisch zu bezeichnenden Selbsthass des Abendlandes, das sich zwar lobenswerterweise fremden Werten verstehend zu öffnen versucht, aber sich selbst nicht mehr mag, von seiner eigenen Geschichte nur noch das Grausame und Zerstörerische sieht, das Große und Reine aber nicht mehr wahrzunehmen vermag. Europa braucht, um zu überleben, eine neue – gewiss kritische und demütige – Annahme seiner selbst.“ [JR 2000b]

Der Kirchenführer präsentiert ein Programm der Restauration, das eine Rückkehr zu vormodernen und, wie sich später zeigen wird, zu vorkonziliaren Zeiten verlangt.

1.3 Intellektuell oder bloß intelligent?

Doch bevor wir daraus Folgerungen ziehen, gilt es genau hinzuschauen. Vielleicht hat eine Weltreligion ja tatsächlich Lösungen anzubieten, die den Kanon der säkularen Rationalität überschreiten. Man weiß, dass Ratzinger an diesem Punkt eine klare Position vertritt und damit eine breite Anhängerschaft gefunden hat. So hält der Papstverteidiger Manfred Lütz Benedikt XVI. für einen der großen, brillanten Intellektuellen unserer Zeit, und es sei kaum anzunehmen, „dass im laizistischen Frankreich die Académie française ohne Not einen Schwachkopf in ihre Reihen beriefe“ [Lütz 2009b]. Nun gut, zwischen einem großen Intellektuellen und dem tumben Tor, den Lütz hier präsentiert, liegen viele Möglichkeiten. Auch sollte uns nicht weiter Lützens Irrtum beschäftigen, der die Académie des sciences morales et politiques mit der hochangesehenen Académie française verwechselt. Aber wie J. Foyer preist auch M. Lütz die Liebenswürdigkeit des Hierarchen und begründet dies mit der unhaltbaren Feststellung, J. Ratzinger habe (als Glaubenspräfekt oder als Papst?) so wenig Zensuren verhängt wie kaum einer seiner Vorgänger.[7] Ferner habe er den – doch sehr verspäteten und mit einem Affront beginnenden – Mut gehabt, auf den Islam, wenn auch mit dem nötigen Widerspruch, zuzugehen. Schließlich habe Ratzinger die marxistisch[?] inspirierte Befreiungstheologie in die Schranken gewiesen, immer die Mitte gehalten zwischen einer klaren Fundamentalismuskritik und der Distanz gegenüber rechten Diktaturen. Offensichtlich solidarisiert sich Lütz hier mit einem rechtslastigen Gesellschaftsmodell.

Ähnlich wie andere Papstverteidiger spiegelt Lütz die Gemengelage von Ratzingers Denken wider. Natürlich lassen sich an Kirche und Gesellschaft starke Krisensymptome entdecken, wer möchte sich seinem Aufruf nach einem rationalem Verhalten und nachhaltigen Werten, nach einem respektvollen Umgang mit Menschen und Religionen verweigern? Es fragt sich nur, ob der Glaubenshüter oder Papst aus diesen Konflikt- und Mängelanzeigen nur pessimistische Klagen ableitet oder neue Einsichten erarbeitet. Was sind denn die komplexen Gründe für den Orientierungsverlust, was die humanen Intentionen von historisch oder politisch reflektierenden Theologien? Welche Motive führten zu Reformation und Revolutionen und wer in Europa hat die Voraussetzungen für ein gewaltfreies Zusammenleben geschaffen? Es besteht keinerlei Grund, dem Papst ein hohes Maß an Intelligenz abzusprechen. Doch eines lässt sich nicht leugnen: Er führt die Diskussion mit der Moderne nicht als Beteiligter, sondern von einem belehrend überlegenen Standpunkt aus, mit angeblich unangreifbaren Traditionen im Rücken.

Den Intellektuellen zeichnen aber nicht distanzierende Meinungen, sondern ein kommunikatives Verhältnis zur Gegenwart aus. Dagegen wird Ratzinger zum Zeugen von Diskursen, die sich in wissenschaftliche und weltanschauliche Gruppen aufgespaltet haben. Wider Willen ist er durchaus postmodern, eher Mitverursacher als Überwinder der gegenwärtigen Kommunikationsmisere, die nur noch konstatierend zu beschreiben weiß statt zu helfen, die Wirklichkeit von innen her zu verstehen. Mit einem Beispiel sei dieser Gesichtspunkt illustriert.

Lütz, der sich als Psychiater, Theologe und Kabarettist in einem empfiehlt, schrieb einen erfolgreichen Bestseller mit der Kernthese: „Irre – Wir behandeln die Falschen; unser Problem sind die Normalen.“ [Lütz 2009a] Gewiss hat der Autor diese These scharfsinnig und geistreich, gar in amüsanter Weise dargestellt und das Buch ist voll von kundigen, transparent zubereiteten Informationen; es ist ein intelligentes Buch. Aber lehrt es die Leserschaft, den Menschen besser zu verstehen? Welche politische Folgerung will man aus ihm ziehen außer dem Aufruf, man möge mit psychisch Leidenden bitte verständnisvoller umgehen? Erhellt dieses Buch die Situation unserer Gesellschaft nachhaltig oder konfrontiert es uns mit Kerngefährdungen oder Kerndefiziten unseres Zusammenlebens? Warum dieses Buch also nicht vorbehaltlos loben? Vergleiche mit den Untersuchungen von Michel Foucault über „Die Geburt des Gefängnisses“ [Foucault] oder mit der Komödie „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt [Dürrenmatt] veranschaulichen den Unterschied zwischen der gewiss intelligenten Qualität dieses Buches und der Botschaft von wegweisenden Intellektuellen.

Foucault etwa stellt dar, wie die neuzeitliche Gesellschaft das Subjekt in einem fein verzweigten Netz von Kontrolle und Abhängigkeiten entstehen lässt, wie die potentiellen „Irren“ und die Kriminellen zum Antiparadigma des neuzeitlich „geordneten“ Zusammenlebens werden. Dürrenmatts Komödie hingegen zeigt in der Dialektik von psychisch Gestörten und Normalen einen atemberaubenden Abgrund. Unentscheidbar wird nämlich die Frage: Wer von beiden Gruppen bewahrt das Geheimnis der Weltzerstörung, um es zu verbergen und damit die Katastrophe zu verhindern, und wer entdeckt und missbraucht es für sein grausames Spiel? Die Beurteilung des Intellektuellen entscheidet sich immer an dieser Doppelfrage: Welche Fallhöhe einer Gesellschaft kommt in seinem Diskurs zu Wort und welche Auswege vor dem Absturz weiß er zu bieten? Bleibt es einfach bei einem pessimistischen Alarmismus, der die Gefühle der Bevölkerung in seine Richtung drängen will, oder legt der Denker Ratzinger über die Abgründe bislang unbekannte Brücken?

Man sucht sie in seinem Werk vergebens. Seinen abwehrenden Konservatismus versteht er als integrales Element seiner katholischen Identität. Der Grund dafür liegt im Bruch, den die katholische Kirche im 19. Jahrhundert mit der Moderne vollzog, und von dem sich Hierarchen auch durch das 2. Vatikanische Konzil nicht befreien ließen. Zu den „Auswüchsen“ dieser Moderne gehört eben auch der Intellektuelle, der seine Rationalität und seine Meinung nicht mehr dem irreformablen und unfehlbaren Urteil der Kirche unterstellt.[8]

II. Das antimoderne Erbe: Abkehr von der Welt

Auf den Wortführern einer christlichen Großkirche laste ein hoher Erwartungsdruck, denn sie repräsentieren eine Tradition, die Mensch, Welt und Gesellschaft immer schon umfassend deutete. Bereits vor 2700 Jahren haben Visionäre Israels ebenso unverrückbare Maßstäbe gesetzt wie spätere Erneuerer, seien es Paulus, Albertus Magnus, Martin Luther oder Johannes Calvin, seien es Denker wie Blaise Pascal, Friedrich Schleiermacher oder John H. Newman. Seit Beginn der Neuzeit müssen sie sich jedoch messen lassen an den Leistungen säkularer Denker, seien es Descartes, Karl Marx oder Max Weber, Jean-Paul Sartre, Herbert Marcuse oder Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas oder zahllose zeitgenössische, philosophische oder naturwissenschaftliche Analytiker, die als hochrangige Experten unser Wissen bestimmen.

2.1 Katholische Intellektuelle, katholisches Milieu

Seitdem der Begriff des Intellektuellen (1898) in der Welt war, haben sich die Erwartungen an ihn spezifiziert. Die Resonanzböden in Wissenschaft und Politik, Kapital und Medien wurden vielfältig und von einer übergreifenden Philosophie nicht mehr einholbar, wodurch sich die Funktion der Intellektuellen veränderte. In stabilen Gesellschaften galten Wahrheitsfindung und bleibendes Wahrheitswissen als Ideal. In Epochen des Umbruchs geht es aber um Wahrheitssuche und ständige Anpassung. Erst die Konkurrenz der je sachgemäßeren Dekodierung garantiert den gemeinsamen Gewinn. So verlieren die Kirchen zwar nicht ihr Mitspracherecht, aber ihre unfehlbare Geltung. Die Säkularisierung unterläuft nicht den Glauben, aber dessen autoritären Ewigkeitsanspruch.

Das blieb für die Intellektuellen innerhalb der katholischen Kirche nicht ohne Folgen; sie gewannen an Bedeutung und wurden zum Problem. Sie hatten sich zu entscheiden, ob sie die Türen nach außen öffnen oder wenigstens eine „moderne“ Innenwelt schaffen sollten. Nach dem Kulturkampf kristallisieren sich im deutschen Sprachraum „katholische Intellektuelle“ eigener Art heraus, die die Mentalität des jungen und lernbegierigen Theologen Ratzinger beeinflussen werden. Man denke an Karl Muth, Peter Wust oder Romano Guardini.[9] Zunächst werden sie von der Öffnung der Türen abgelenkt, denn bis in die 30er Jahre hinein versuchen sie mit wachsendem Erfolg, an das protestantisch geprägte Kulturleben Anschluss zu finden, also eine Art christlich-kultureller Parallelwelt zu schaffen. Für die lange unterlegenen Katholiken war dieser Weg nicht einfach: „Der [Kultur-]Kampf und seine Bedürfnisse, nicht der Sieg und seine Pflichten hatten ihre Seelenlage bestimmt.“ Zwar war man „auf Misstrauen gegen den modernen Geist gefärbt und hielt sich unter sorgsamem Verschluss … Man wagte nicht, abzurüsten“ [Nadler, 62f.]. Aber die Alternative einer zur säkularen Welt geöffneten Mentalität wurde erst später deutlich, denn der Minderwertigkeitskomplex gegenüber der protestantischen Überlegenheit löste sich erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auf; in den 60er Jahren ging man die Frage nach der säkularen Kultur an. Vor 1962 blieb man auf die Identitätsprobleme fixiert.

Nur wenige herausragende Figuren wie Walter Dirks (1901-1991), Eugen Kogon (1903—1987), Heinrich Mertens (1906-1968), Ernst Michel (1889-1964) und R. Guardini (1885-1968) gingen einen Schritt weiter. Sie stellten sich den säkularen Themen des 20. Jahrhunderts: dem Krieg und der Möglichkeit des Friedens, der Alternative zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der deutschen Vergangenheit des Faschismus und der Shoah [Ackermann]. Aber diese Signale drangen kaum nach innen, sondern blieben an den Rand innerkirchlicher Debatten gedrängt. Zum einen ging man davon aus, die soziale Frage habe in der „katholischen Soziallehre“ mit ihren Enzykliken von 1891 und 1931 eine gültige katholische Antwort gefunden.[10] Mit ihnen war zwar eine beachtliche sozialethische Tradition installiert, aber in sich behielt sie (vor-)bürgerlich-korporative Züge und blieb von kirchlichen Interessen domestiziert. Sie erreichte nie die Dynamik der späteren lateinamerikanischen „Option für die Armen“.

Eine radikalere, von katholischen Intellektuellen mitinitiierte Solidarität mit der Arbeiterklasse vollzogen im kirchlichen Frankreich die „Arbeiterpriester“[11]; ihr Scheitern sollte für Ratzinger nicht ohne Folgen bleiben. Dort verdingten sich Priester als Arbeiter, um das Los ihrer neuen Kolleginnen und Kollegen zu teilen. Dabei erlitten die Ideale eines bürgerlich eingebetteten Priestertums massiven Schiffbruch, und prompt setzte ein römisches Ultimatum dem Projekt im Jahr 1954 ein Ende. Gemäß vatikanischem Beschluss von 1959 haben Priester nicht durch Arbeit, sondern durch die Verkündigung des Evangeliums und durch die Spendung der Sakramente zu wirken. Nicht dass man das Modell des Arbeitspriesters verwarf, macht das Scheitern dieser Initiative aus, sondern die von Rom angeführte Begründung für diesen Schritt. Der Glaubenswächter wird bei der späteren Disziplinierung der Befreiungstheologie ganz ähnlich argumentieren. Von hier führt ein Weg zu Ratzingers späterer Berührungsangst mit Welt und Politik generell. Die in Frankreich vollzogene Polarisierung sollte sich in Deutschland unter verschärften Bedingungen wiederholen.

Denn Ende der 60er Jahre wurden die deutschen Kirchen auch von säkularer Seite mit ihrer eigenen Vergangenheit, besonders mit der Epoche des Faschismus konfrontiert; ihre Glaubwürdigkeit geriet dramatisch in Misskredit. Der Tübinger Professor hat diese Herausforderung nicht ertragen und die lateinamerikanische „Befreiungstheologie“, die den politischen Sprengstoff der christlichen Botschaft neu entdeckte, wurde 1984 zum späten Opfer dieses Schocks [JR 1984, JR 1986].

2.2 Ein Ressentiment kehrt zurück

Dieser Rückschlag erstaunt, denn nach „1968“ scheint endlich die Zeit gekommen, um die Konzilsimpulse in Theorie und Praxis voranzutreiben. Warum hat die Kirche, den frischen Wind des Konzils im Rücken, ihre Chance zu einem umgreifenden erneuernden Gesellschaftsdiskurs nicht ergriffen? Hätte man den späteren Globalisierungsschub angesichts der Konzilserfahrungen nicht vorwegnehmen können? Geradezu unbemerkt wuchsen ja viele Theologen in die Rolle von Weltinterpreten hinein. Man denke an die vielbeachteten Neuansätze von Hans Küng und Edward Schillebeeckx, die Neue Politische Theologie (Johann B. Metz), die Theologie der Hoffnung (Jürgen Moltmann), die Befreiungs- und die Gender-Theologie, sowie andere kontextuelle Theologien. Ein breiter Erfahrungs- und Diskurshorizont hatte sich aufgebaut, der sich über die christliche Ökumene bald auf die Weltreligionen ausweitete. Schließlich hatten führende Intellektuelle wie z.B. Ernst Bloch – biblisch, historisch, gesellschaftspolitisch und interkulturell – zentrale Punkte aufgegriffen, die ein Gespräch mit säkularen Intellektuellen ermöglichten.

Dennoch gelang es nach den missglückten Versuchen der 50er Jahre offensichtlich nicht, das tiefsitzende, zuvor abgemilderte, jetzt aber neu aufbrechende antimodernistische Ressentiment der früheren Jahrzehnte zu überwinden. Man hatte sich gut im katholischen Milieu eingerichtet, das sich als die deutsche, die kulturell verschleierte Variante des harten römischen Antimodernismus begreifen lässt. Die in ihm genährte Zögerlichkeit wirkt wie die Angst, endlich erwachsen zu werden, auf andere zuzugehen und sich der Welt zu stellen. Man richtet sich im wohlsituierten Heim, in seiner Lehre, seiner Liturgie, seiner finanziellen Ausstattung, seinen angestammten Privilegien ein. Selbst die argumentativ wohl geschützte Lehre von der Ordentlichen Unfehlbarkeit lässt sich auf die einfache Formel herunterbrechen: „Es war schon immer so.“

Genau in dieser Atmosphäre richtete sich der verunsicherte Ratzinger ein. Als „guter Katholik“ wählte er in Lehre und Praxis den Weg der Tradition und gab alten Argumenten bloß ein neues Gesicht. Im Sinne der vorhergehenden Jahrzehnte wurde er zum Kritiker aller Erneuerung, zum Warner vor allen Strukturdiskussionen und zum Restaurator der alten bischofszentrierten Ordnung [Häring 2009, 55-96]. Faktisch kehrte er, die Moderne fürchtend, in die religiösen Gefühle und Erinnerungen seiner Jugendzeit zurück. Er rationalisierte seine Nostalgie, indem er den Katholizismus als abendländisches Kulturprojekt fortschrieb [Häring 2005]

2.3 Kein Wechsel der Perspektiven

Je mehr er sich in einer polarisierten Kleriker- und Theologengemeinschaft von den einen angegriffen und den anderen bestätigt fühlte, umso mehr wurde die gefühlte Distanz zur Moderne zum ideologischen Widerstand gegen sie. Seine Kirche wurde wieder zu „Gottes Haus“ bzw. zur Festung, sein klerikaler Lebensstil zur gottgewollten Lebensform. Zwar sieht er sich als Glaubenspräfekt, erst recht als Papst täglich mit den Problemen der Welt und ihrer Menschen konfrontiert. Nachdrücklich betont er, ständig werde er über das Weltgeschehen informiert [JR 2010, 97]. Er übersieht aber die gleichgesinnte Denkungsart seiner Informanten und dass er sich bei aller Hörbereitschaft auf keine ergebnisoffenen Gespräche einlässt; sonst hätten seine Abhandlungen zu Europa zu einem Feuerwerk neuer Ideen und Perspektiven werden können. Stattdessen entwickelt Ratzinger auch hier ein rückwärtsgerichtetes Modell, das zu keiner Erweiterung der Perspektiven fähig ist.

Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt, den das folgende Zitat illustrieren kann. Ratzinger schreibt auf dem ersten Höhepunkt seiner innerkirchlichen Bedeutung:

„In unserer gegenwärtigen Gesellschaft wird gottlob bestraft, wer den Glauben Israels, sein Gottesbild, seine großen Gestalten verhöhnt. Es wird auch bestraft, wer den Koran und die Grundüberzeugungen des Islam herabsetzt. Wo es dagegen um Christus und um das Heilige der Christen geht, erscheint die Meinungsfreiheit als das höchste Gut, das einzuschränken die Toleranz und die Freiheit überhaupt gefährden oder gar zerstören würde. Meinungsfreiheit findet aber ihre Grenze darin, dass sie Ehre und Würde des anderen nicht zerstören darf; sie ist nicht Freiheit zur Lüge oder zur Zerstörung von Menschenrechten. … Auch Multikulturalität kann ohne gemeinsame Konstanten, ohne Richtpunkte des Eigenen nicht bestehen. Sie kann ganz sicher nicht ohne Ehrfurcht vor dem Heiligen bestehen.“ [JR 2000b]

J. Ratzinger hüllt selbst den Respekt vor dem Heiligen in peinliches Selbstmitleid: Statt die ambivalente Machtgeschichte des Christentums selbstkritisch anzuerkennen, sieht er das Heilige der Christen bloß primitivem Spott ausgesetzt. In erstaunlicher Direktheit trägt er die Interessen seiner eigenen Institution vor, ohne sich in die Perspektivenvielfalt einer pluralen Gesellschaft hineinzudenken. Gewiss lässt sich dieser Mangel nicht einfach als partikulares Interesse tadeln, denn er beansprucht, sich für eine große Sache einzusetzen. Aber er übersieht: Seine kirchlichen Engführungen werden dieser großen Sache gerade nicht gerecht, weil sie in der Institution Kirche nicht aufgehen kann. Es ist ja die Egozentrik seiner Institution, die eine gleichberechtigte Auseinandersetzung mit anderen Weltanschauungen und Institutionen unmöglich macht.

Die Verweigerung dieses auch christlich gebotenen Perspektivenwechsels macht Ratzinger für die ungeheuer komplexe Geschichte dieses Kontinents, ihres Glaubens-, Rechts- und Wahrheitsbewusstseins blind. In der Regensburger Rede erklärt der Papst unmissverständlich, in Sachen Wahrheit komme der europäisch-hellenistischen Kultur gegenüber allen anderen Kulturen und Kontinenten eine normative Stellung zu. Solche Vorurteile behindern das so notwendige intellektuelle Gespräch, wie es von der Gegenwart erwartet und vom 2. Vatikanischen Konzil, diesem vorweggenommenen „Korporatismus des Universellen“ [Bourdieu] prinzipiell schon vollzogen worden ist. Mit den Maßstäben eines Intellektuellen am Beginn des 21. Jahrhunderts hat dies nur wenig zu tun.

III. Paradoxe Lebenswelt: Flucht in die Selbstbestätigungen

Damit komme ich noch einmal auf die Vergangenheit des deutschen katholischen Intellektuellen nach dem 1. (und 2.) Weltkrieg zurück. Sie zeigte eben nicht nur Möglichkeiten, sondern hämmerte dem katholischen Bewusstsein auch Grenzen ein. Auch Ratzingers Kirchenbild baute auf einem breiten Konsens auf, der sich während der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus gebildet hatte.

3.1 Das katholische Paradox

Es gab damals die rechten und die linken Intellektuellen. Die Rechten hatten mit dem Zusammenbruch des Faschismus abgewirtschaftet[12], aber die Linken galten auch nach 1945 wegen ihrer hartnäckigen Kirchenkritik als verdächtig. Im Blick auf W. Dirks spricht der Soziologe U. Bröckling später vom „Paradox des katholischen Intellektuellen“. Dirks hat einen schweren Stand gehabt [Bröckling]. Denn erstens wirkte er – um mit Gramsci zu reden – als ein „organischer“, also als ein dazugehöriger Intellektueller, der die Interessen und den Auftrag dieser Kirche wahrnimmt. Zweitens beanspruchte er gerade deshalb das Recht, in grundsätzlicher Kritik über diese Kirche nachzudenken. Schließlich hat ein Intellektueller immer einem überparteilichen und allgemeinen Interesse zu folgen. Das schließt, so Bröckling, eine intellektuelle Distanz zur Kirchenstruktur und Kirchenleitung ein; ein wirklich intellektuelles Engagement für eine bessere Kirche führt notwendig zur Kirchenkritik.

„Die Erkenntnisbewegung, die Dirks vollzieht, verläuft paradox: Nur weil er ein katholischer Denker ist, vermag er das katholische Denken so subtil zu beschreiben; nur weil und soweit er die Grenzen dieses Denkens überschritten hat, vermag er es als ideologisch zu begreifen. – Vielleicht liegt darin das Paradox des katholischen Intellektuellen überhaupt.“ [Bröckling, 167]

Man muss diese gewiss richtige Argumentation schon zweimal lesen. Immerhin kommt sie zum Schluss: Auch für den rational denkenden Katholiken kann es prinzipiell keine „katholisch“ gebundenen Grenzen des Denkens mehr geben. Grenzüberschreitungen, Zuspitzungen, gegebenenfalls Provokationen, ein Geflecht von Kritik und Bejahung gehören zum Denken und zum Urteilen schlechthin. Notfalls muss dann um des kirchlichen Auftrags willen eine engagierte und leidenschaftliche Kritik an der Kirche möglich sein.

Genau diese Selbstkritik, diese Verletzung der Konventionen und dieses Rütteln an geronnenen Denkfiguren und Organisationsformen führt im katholischen Denken zu einem Problem, seitdem es sich den Fragen der Reformation verweigert hat. Seitdem wird das katholische Selbstverständnis immer defensiver; es verhärtet sich gegenüber der Aufklärung, erst recht gegenüber der Moderne [Bäumler]. Im 19. Jahrhundert rufen zwar Gegenkräfte nach einer Öffnung und die Kulturzeitschrift Hochland stellte ihm dafür die Bühne bereit, hielt sich aber in engen Grenzen. Es war immer noch antiliberal, antidemokratisch, antijüdisch und antiinternational geprägt und bestand auf dem exklusiven Wahrheitsanspruch der katholischen Kirche [Giacomin].[13] Nur zögerlich hat man später den Kampf gegen den Faschismus aufgenommen [Ackermann; Faber, 960]. Bei einigen jedoch setzten sich die Tugenden des Intellektuellen jetzt unverfälscht durch; sie reagierten, wie Bering sagt, im Blick auf die Gesellschaft unbefangen und engagiert, demokratisch, in wissenschaftlicher Verantwortung und mit politischem Bewusstsein.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Romano Guardini (1885-1968) z.B. konnte zwar den großen innerkirchlichen Nachruhm für sich reklamieren. Seine Verdienste sind unbestritten, denn mit hohem intellektuellem Einsatz brachte er die christlichen Wahrheiten für den kirchlichen Innenraum zum Leuchten. Er begeisterte die akademische Jugend und entstaubte die katholische Alltagspraxis. Doch seine Fähigkeit, als Intellektueller die Grenzen nach außen hin oder von außen her zu überschreiten, wurde nur bedingt auf die Probe gestellt. Nach Ratzinger erfuhr er das Dogma nicht als Fessel, sondern als „gebende Kraft“ [JR 1998, 58]. Bröckling drückt es so aus:

„Bei Guardini liegt die Sache noch vergleichsweise einfach: Dieser macht es sich zur Aufgabe, die fragwürdig gewordene Legitimität der kirchlichen (und staatlichen) Autorität wiederherzustellen. Als Priester offizieller Funktionär der Kirche, sorgt er dafür …, dass der gläubige Nachwuchs unter dem Einfluss der Jugendbewegung nicht aus der ideologischen Einheit des Katholizismus ausschert. Die Integration erfolgt durch ein Zusammenspiel von Anpassung und Grenzziehung …“ [Bröckling, 158].

Mit dieser Strategie hat Guardini die katholische Theologie nach 1945 nachhaltig geprägt. Unter seinem Einfluss stand auch Ratzinger mit seiner harmonisierenden Zuwendung zur Kirche. Beide setzen sich mit Augustinus und Bonaventura auseinander. Beide interpretieren mit Vorliebe existentiell orientierte Denktraditionen, lesen Schrift und christliche Botschaft mit existentiellen Akzentsetzungen. Sie erkennen in ihnen eine Herausforderung für die persönliche Identitätssuche und versuchen, diese gegenüber gesellschaftlichen und kulturellen Bedrohungen zu stärken.

Dabei gibt es jedoch einen wichtigen Unterschied: R. Guardini (1885-1968), der 1918 seine Karriere als Autor begann und sich intensiv mit Philosophie, Literatur und Gesellschaftstheorien (bis hin zu politischer Theologie) auseinander setzte, spürte geradezu instinktiv, welches Unheil sich in den heraufziehenden Entwicklungen verbarg. In einer Art Vorausblick, von expressionistischer Kunst und Kultur beeinflusst, warnte er vor der Dämonie der Macht, der Verflachung der Kultur, den Gefahren der Technik und den Orientierungsverlusten der Menschen. Er erreichte damit Durchbrüche zur Diagnose der Zeit und erweiterte das „Katholische“ von einem konfessionellen zu einem religionsphilosophischen Begriff. Inner- und außerhalb der Kirche fordern seine Impulse zu je persönlicher Auseinandersetzung auf [Gerl-Falkovitz]. Sie führen zu kritisch-labilen Situationen, von denen das Werk Intellektueller immer gezeichnet ist (was ist wahr, was Vermutung, was Warnung oder überzogener Pessimismus?), denn sie schaffen offene Perspektiven und unerwartete Konfigurationen, die auch der Alltag einer Kirche noch nicht eingeholt hat. Ratzinger hingegen rezipiert zwei Generationen später diese Impulse und Warnungen nicht als Herausforderung zu neuer Spurensuche in neuer Zeit, sondern als irreparable und konstatierbare Fakten, aus denen – ebenso thetisch formuliert – nur die Kirche retten kann. Ratzinger verändert den dynamischen Modus Guardini’scher Wahrnehmung in ein statisch zwingendes „So-und-nicht-anders“.

Allerdings gibt es zwischen den beiden auch eine Verwandtschaft, durch die sich Ratzinger bestätigt wissen kann. Dem besprochenen Paradox gemäß formuliert Guardini seine Grenzerweiterungen in einem umfassenden Raum. Für ihn bietet die katholische Kirche einen schützenden Rahmen, der unverändert bleibt; sie bietet eine objektive Wahrheit im Gegensatz zum Subjektivismus der evangelischen Tradition. Für beide bleibt der kirchliche Felsengrund also unverrückbar. Natürlich schlug Guardini aus diesem (im Grunde noch vormodernen) Konservatismus Feuer und viele übernahmen erleichtert von ihm das paradoxe Gefühl einer gebundenen, von der Kirche behüteten Befreiung. Aber der kulturelle Umbruch der 60er und 70er Jahre stellte genau diesen Mythos in Frage und von Guardinis interdisziplinär pulsierendem Erbe blieb bei Ratzinger nicht viel mehr erhalten als eben das Bild einer in sich wohlgeordneten Kirche, die ihre Liturgie feierlich zelebriert und die Menschen sicher zum Heil leitet. Mit dem Rückfall in dieses Restwissen ließ sich die nachkonziliare Situation intellektuell nicht mehr bewältigen.

3.2 Konsolidierung durch Misstrauen

Offensichtlich waren die drei Konzilsjahre (1962-1965) zu kurz, um die anstehenden Grundlagenfragen gegenüber Vergangenheit und Zukunft zu klären. In den quälenden Folgejahren mit zunehmender Stagnation, inneren Polarisierungen, offiziellen Sanktionen, Rede- und Lehrverboten, wirkt der Hochschullehrer Ratzinger, wie schon angedeutet, zunächst unsicher, dann sucht er seinen eigenen Weg, der kein origineller und schon gar kein zukunftsfähiger war. Er bildet mit von Balthasar und de Lubac, den Erben der Nouvelle théologie, später mit Johannes Paul II. eine Kampfgemeinschaft, die 1972 zur Gründung der Internationalen Katholischen Zeitschrift Communio führte [Häring 2012]. Er baut seine altkirchlichen Inspirationen, die seine Modernismusferne begründen, zu kirchenfixierten Kampfbastionen aus. Was zurückbleibt, muss sich bei einem Wortführer der Weltkirche als Gesprächsverweigerung gegenüber der säkularen Welt und als eine Rückführung der Kirche in eine absolutistisch regierte Organisation auswirken. Als Herr der offiziellen Sprachregelungen versucht er, die kirchliche Kommunikation den intellektuellen Grenzüberschreitern zu entwinden.

Neben dem antimodernen Trauma mit seiner Unfähigkeit zum Perspektivenwechsel zeigt sich als weitere Eigenschaft Ratzingers Wille, den unerschütterlichen Vorrang der katholischen Kirche vor allen anderen religiösen und ideologischen Institutionen zu demonstrieren und durchzusetzen. Der spätere Glaubenshüter, dem man mehr ein Gespür für kultur- als für gesellschaftspolitische Entwicklungen nicht absprechen kann, fühlt sich darin durch den Zusammenbruch der sozialistischen Staaten bestätigt, behält aber deren Wagenburgmentalität bei. Kritische Denkansätze werden in Theologie und Seelsorge noch massiver mit dem Argument bekämpft, jede Desorientierung und Anarchie sei zu vermeiden. Das Jahr 2000 sollte endgültig zum Jahr der inneren Konsolidierung, d.h. der autoritären Befriedung innerer Polarisierungen werden. Im August erschien das vom Glaubenspräfekten verfasste Lehrschreiben DOMINUS IESUS, das „die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“ zum Inhalt hat. Entgegen allen intellektuellen Herausforderungen der Gegenwart und des Konzils unterbricht es jeden offenen und lernbereiten Dialog mit Kirchen, Religionen und Welt.

In dieser neuen autoritären Kirchenpraxis erscheint die vorkonziliare Denkwelt, also die Kritik der Moderne und das altkirchliches Superioritätsgefühl, in einem neuen, überlegen auftretenden und doch peinlichen Gewand. Denn der Antimodernismus, im katholischen Milieu einst gemildert, nimmt wieder unversöhnliche Formen an und die innerkirchliche Kommunikation bricht zusammen. Die Mitglieder der reaktionären „Piusbruderschaft Pius X.“[14] erinnern an die massiv antidemokratischen und antijudaistischen Elemente, bis hin zum Vorwurf des Gottesmordes. Es kennzeichnet die rückwärtsgewandten Ziele des Glaubenspräfekten und Papstes, dass er sie auch nach 40 Jahren noch nicht definitiv in die Schranken gewiesen hat. In der Karfreitagsliturgie wird seit 2008 wieder um die Erleuchtung der Juden und deren Eintritt in die Kirche gebetet.[15]

3.3 Krisenhermeneutik

Diese Nachgiebigkeit ließe sich vielleicht ertragen, wenn der Theologe, Bischof und Papst nicht bis heute intellektuell agierende Mitglieder der katholischen Kirche pauschal als eine verantwortungslose, im Grunde ungläubige Klasse von Einzelgängern ohne „kirchliche Gesinnung“ diskriminieren würde, um ihren Einfluss zu minimieren. Eine stets präsente Intellektuellenpolemik gehört zur Standardbeigabe seiner Äußerungen. Zwei Kostproben mögen dies illustrieren.

Im Jahre 1991 erklärt der Kardinal vor Theologen, sein Bundesgenosse Hans Urs von Balthasar habe

„die Größe der konziliaren Texte uneingeschränkt erkannt und anerkannt, aber er sah auch, wie rundherum sich viele kleine Geister angesiedelt hatten, die nun aus der konziliaren Atmosphäre Bedeutung zu gewinnen suchten, indem sie einfach am Maßstab des Glaubens vorbeiredeten mit Forderungen oder Behauptungen, die dem Geschmack der Zeitgenossen entsprachen und aufregend erschienen, weil man sie bisher für unvereinbar mit dem Glauben der Kirche gehalten hatte. Origenes hat einmal gesagt: Die Häretiker denken tiefer, aber nicht wahrer. Mir scheint, für die Nachkonzilszeit müsse man das ein wenig abwandeln und sagen: Ihr Denken erschien interessanter, aber auf Kosten der Wahrheit. Das bisher Unmögliche zu behaupten wurde als Fortführung des Geistes des Konzils ausgegeben. Ohne dass schöpferisch Neues hervorgebracht worden wäre, konnte man sich nämlich zu billigem Preis interessant machen, indem man alte liberale Ladenhüter nun als neue katholische Theologie anbot.“ [JR 1992b, 455]

Am 1. Dezember 2009 eröffnet Papst Benedikt in der Capella Paolina die jährliche Versammlung der Internationalen Theologenkommission. Er knüpft an beim biblischen Bericht von den Schriftkundigen, die den Magiern den Weg nach Bethlehem weisen. Aber sie selbst, so der Papst in einer recht willkürlichen Exegese, fänden es nicht nötig, dorthin zu gehen. Daran knüpft seine Polemik an:

„Die wichtigsten Ereignisse aus dem Leben Jesu gehören nicht nur der Vergangenheit an, sondern sie sind auf verschiedene Weise in allen Generationen gegenwärtig. Und auch in unserer Zeit, in den vergangenen 200 Jahren können wir genau dies feststellen. Es gibt große Gelehrte, große Fachleute, große Theologen, Lehrer des Glaubens, die uns vieles gelehrt haben. Sie haben sich zwar eingehend mit Detailfragen der Heiligen Schrift und der Heilsgeschichte befasst, aber es ist ihnen nicht gelungen, das Mysterium selbst zu erkennen, den eigentlichen Kern: dass nämlich Jesus wirklich der Sohn Gottes gewesen ist, dass der dreifaltige Gott in unsere Geschichte eingetreten ist, in einem bestimmten geschichtlichen Moment, in einem Menschen, wie wir es sind. Das Wesentliche blieb ihnen verborgen! Es wäre nicht schwer, einige wichtige Namen aus der Geschichte der Theologie in den letzten 200 Jahren anzuführen, von denen wir viel gelernt haben: die Augen ihres Herzens sind jedoch vor dem Mysterium verschlossen geblieben.“ [JR 2009][16]

Auch diese Kritik soll in Sachen katholischer Wahrheit das einzige Definitionsrecht der Kirche stabilisieren; es ist nicht zu bestreiten, dass Ratzinger darin – teils aus Gewohnheit, teils aus Unkenntnis – die Mehrheit katholischer Theologen folgt. Nicht die Schrift, sondern das kirchliche Glaubensbekenntnis und die dogmatisierten Glaubenssätze der spätantiken Kirche sollen als die Stabilisatoren einer kirchlichen Ordnung gelten, die alle Zeiten überdauern soll.

Dementsprechend sorgt Ratzinger von 1981 bis heute bei der Besetzung von kurialen Ämtern, von Bischofs- und Lehrstühlen für klare Verhältnisse. Der aktuelle Zustand der offiziellen Kirche mit ihrer ambivalenten Haltung zu Ökumene und anderen Religionen ist weithin das Werk des gegenwärtigen Papstes. Dabei sind Intellektuelle als zu Distanz und kritischer Argumentation fähige Denkerinnen und Denker unerwünscht. Der extrem entwickelte Corpsgeist und Gruppenzwang einer klerikalen Topelite verstärkt diese Mentalität und deren Denkmuster [Oschwald].

Dies sei an einem kleinen Beispiel illustriert: Hansjürgen Verweyen, Ratzingerschüler und -biograph, bezieht sich auf das Buch Christ sein von Küng und stimmt dessen scharfer Kritik durch Ratzinger mit einer auffallenden Begründung zu [Küng; Verweyen 2007, 63-69]. Er zitiert zunächst aus Ratzingers, von dessen Verletztsein zeugender Kritik: Bei Küng sei der Gelehrte „an die Stelle des Priesters“ getreten. Dabei hat Küng, selbst Priester, schlicht ein weiteres erfolgreiches Buch geschrieben, wie es sein Kollege sechs Jahre zuvor ja ebenfalls tat und mit Gelehrtenanspruch immer noch tut. Dann stellt Verweyen mit Ironie fest, sehr bald sei Küng „zum obersten Hirten einer Gemeinde von Intellektuellen[!]“ geworden, „die nach einer zuverlässigeren Auskunft über Jesus und seine Botschaft suchten, als das dogmatische Petrefakt christlicher Glaubenslehre zu bieten scheint“. Auf dem Spiel steht offensichtlich nicht ein möglicher und zu diskutierender Wahrheitsgewinn, sondern die bedrohte Kompetenz der offiziellen Kirche. Im nächsten Abschnitt werden dann die Küng lesenden „Intellektuellen“ mit einiger Häme als „Gebildete und Halbgebildete“ charakterisiert, die sich einerseits für Küng begeisterten, andererseits den Spiegel[!] konsumierten. Küng habe damals ja nur Rudolf Augstein für dessen antikirchliches Jesusbuch (Jesus Menschensohn, München 1972) die Wege geebnet. Gefolgt sei schließlich Eugen Drewermann, der „heiß umschwärmte Guru wahrer Liebe“, und ihm wiederum folge „der reich gedeckte Tisch neuer religiöser Bewegungen“ und dessen „reiches Angebot attraktiver Spiritualität“ [Verweyen 2007, 69].

Für den distanzierten Betrachter könnte diese Argumentation abstruser nicht sein, aber sie folgt präzise der Krisenlogik einer klerikal-theologischen Nabelschau. Doch bei sorgfältiger Lektüre verrät Verweyen noch einen Hintergrund, der Ratzinger nachdrücklich beschäftigt haben muss. Wie die unbarmherzige und grundsätzliche Kritik des Glaubenspräfekten am „Marxismus“ der Befreiungstheologie auf seine konkreten und recht zufälligen Erfahrungen mit bestimmten Studierenden und deren Flugblätter in Tübingen zurückgeht, so hat er, wie es scheint, auch nie den Schock überwunden, den ihm Augsteins (schnell vergangener) Erfolg, der wachsende Einfluss von Drewermann und das hohe Interesse an esoterischer Literatur versetzte. Nicht theoretische Positionen, sondern praktische Kirchenerfahrungen und Enttäuschungen ebnen die Bahnen seines Denkens und Handelns. Es gibt im katholischen Raum wohl nur wenige Beispiele, bei denen – beim Anschein höchster Intellektualität – Wahrheit und Interesse, frühe Erfahrungen und spätere Normenbildung so eng miteinander verwoben sind. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. mit diesen Zusammenhängen kritisch, gar selbstkritisch umzugehen weiß. Faktisch wird eine gewaltige, weltweite Kirchenorganisation von den biographischen Individulerfahrungen eines bayrischen Katholiken im unruhigen Tübingen geprägt, das (wie Ratzinger nach Solowjew in päpstlichem Sarkasmus unterstellt) dazu fähig ist, dem Antichristen den Doktor in Theologie zu verleihen [JR 2007, 64].

IV. Eine widersprüchliche Denkwelt

24 Jahre hat Kardinal Ratzinger als Vertrauensperson Johannes Pauls II. die Zukunftsperspektiven der Kirche mitbestimmt. Seit 2005 ist er selbst Papst und kann vom ersten Tag an seine Entscheidungsmöglichkeiten ohne Reibungsverluste ausschöpfen. Weltweit verfügen nur wenige Machthaber über so umfassende intellektuelle Ressourcen, und ein Papst, der der Welt etwas zu sagen hat, wird – über die eigene Kirche hinaus – auch wirklich gehört. Er wäre nach Platons „Staat“ Philosoph und König in einem und Priester dazu, umgeben von Spezialisten aller Wissenschaftszweige, die er sich nur wünschen kann. Er könnte zum faktischen Wortführer der christlichen Kirchen und begehrten Gesprächspartner der Weltreligionen werden. Umso wichtiger ist die Frage, ob und in welchem Sinn dieser Papst weltweit als Intellektueller wirken kann. Dies jedenfalls müsste das Ziel seiner Wünsche sein, denn das erwarten viele Katholiken von ihm.[17] Schließlich ist er selbst davon überzeugt, dass er als oberster Lehrer der Christenheit eine Wahrheit repräsentiert, die alle Kulturen und Zeiten übersteigt.

Allerdings überkreuzen sich seit 1870 dieser amtliche Anspruch und die faktische Kompetenz, so intelligent ein Papst auch sein möchte. Mit gutem Grund hat Johannes XXII. schon 1324 den päpstlichen Unfehlbarkeitsanspruch als Werk des Teufels, des Vaters aller Lügen, verurteilt [Tierney][18], denn im Schein einer überzeitlichen Wahrheit bindet er die Kirche zeit- und hoffnungslos an Aussagen, die historisch und kulturell präformiert sind. Das Unfehlbarkeitsdogma selbst ist an ein überholtes Paradigma von Wahrheit gebunden.

J. Ratzinger, der traditionstreue Theoretiker, wehrt sich dagegen, dieses Kontinuitätsmodell in eine moderne Systemkritik zu überführen. So bleibt ihm nur der Konfrontationskurs übrig, den die katholische Kirche – von kurzen Ausnahmeperioden abgesehen – seit über 150 Jahren fährt. Viele Katholiken halten ihn für stimmig und nach wie vor überzeugend, denn er biete geistige Klarheit und moralische Orientierung. So stellt sich die Frage, wie es mit der inneren Qualität dieser Denkstrategien selbst steht. Sind sie wenigstens innerlich kohärent und widerspruchsfrei strukturiert? Der Antwort sollen einige zusammenfassende Hinweise dienen:

4.1 Offenbarung versus Lehrkompetenz

Schon bei seinen Arbeiten zur Habilitation [JR 1998, 77-91; Verweyen 2010] und zum Konzil beschäftigt den jungen Ratzinger die Frage, wie die christliche Offenbarung – also die verbindliche, für Christen göttliche Wahrheit des Christentums – zu verstehen und wo sie zu finden ist. Ort dieser Entdeckung ist für Ratzinger zwar die Schrift, aber sie ist weder biblizistisch noch historistisch auszulegen, denn die Schrifttexte werden – gut hermeneutisch – erst zur Offenbarung, wenn Subjekte sie mit innerer Zustimmung verstehen. Damit befindet er sich in einem breiten christlichen Konsens. Doch angesichts der schon damals komplexen Diskussionslage argumentiert er recht undifferenziert, durchsetzt von oft unverstandenen antireformatorischen Klischees. So begann für ihn durch viele Detailkorrekturen hin ein suchender Weg, der erst mit dem ersten Band seines Jesusbuchs vorläufig endete [JR 2007]. Doch im Unterschied zu methodisch geregelter Hypothesenbildung ist das Ziel seines Weges von Anfang an klar. Für Ratzinger bildet das kirchliche Lehramt in Vergangenheit und Gegenwart die einzige verbindliche Auslegungs- und Lehrinstanz. Sie legt die Wahrheit letztgültig fest. Konkret meint er die klassischen Glaubensbekenntnisse, die offiziell definierten Dogmen, die Kernsaussagen der Tradition sowie das offizielle „Lehramt“ mit Bischöfen und Papst.

Allerdings widersprechen diese Folgerungen seinem hermeneutischen Ausgangspunkt. Denn wenn die Schrift prinzipiell auf einen Verstehensprozess ausgerichtet ist, dann lässt sich dieser Verstehensprozess nicht willkürlich in einem bestimmten, historisch festgelegten und kulturell eingebundenen Verstehensergebnis fixieren. Verstehensprozesse laufen immer weiter, weil sich (inner- und außerhalb der Kirche) die verstehenden Subjekte und ihre Kon-Texte ständig ändern. Zur Abwehr eines jeden biblischen Positivismus verteidigt er einen Positivismus des Lehramts, der jede offene Diskussion einer Frage unterbindet. Ratzingers Offenbarungstheologie lässt zwar die Neuscholastik hinter sich, aber sie blockiert zahllose Dialoge, führt zu vielfältigen Maßregelungen und Zensuren und versetzt uns in antimoderne und antireformatorische Zeiten zurück. Dieser Widerspruch zwischen theoretischem Anspruch und praktischen Folgen ergibt sich aus dem Verstehenszirkel, den der treue Katholik von Anfang an in Gang setzt. Richtig kann für ihn nur dasjenige Offenbarungsverständnis sein, das die innerkatholische, autoritär verfasste Auslegungstheorie für alle Zeiten ins Recht setzt.

4.2 Kontrollierte Rationalität

Schon in seiner Einführung ins Christentum verweist Ratzinger auf die Bedeutung der Philosophie für das theologische Denken. Diesen urkatholischen Gedanken greift er immer wieder auf, denn er sieht zwischen Glauben und Vernunft eine intensive Interaktion. Den Gedanken der Rationalität verfolgt er seit Mitte der 80er Jahre mit großem Nachdruck; in seinem Sinne hat er auch die Enzyklika des Vorgängerpapstes über Glaube und Vernunft (Sept. 1998) mitgestaltet. Er sieht in Sokrates die Lichtgestalt der griechischen Aufklärung, die später zu Platon und zu Aristoteles führte. Spätestens seit seinem Eintritt in die hellenistische Welt sei der christliche Glaube nicht mehr ohne eine intensive rationale Begleitreflexion zu denken, die für dessen Wahrheit bürgt. Umgekehrt sieht er die Bedeutung der Vernunft erst durch die Menschwerdung des göttlichen Logos endgültig legitimiert. Zudem bleibt die hellenistische Ära klar der normative Fixpunkt nicht nur der kirchlichen Lehre, sondern – wie es scheint – auch der europäischen Kultur. Er reduziert philosophisches Denken auf die hellenistische Philosophie und nimmt allein Maß an deren bruchloser Symbiose mit der antiken Theologie. Daraus folgt geradezu schematisch: Seit dem Ausgang des Mittelalters ist unsere Welt nicht mehr in Ordnung.

Damit baut J. Ratzinger einen unerträglichen Widerspruch in seine Rationalitätsidee ein. Formal greift er die universale Geltung des Vernunftgedankens vorbehaltlos auf, um damit für das Weltgespräch sein Mitspracherecht zu sichern; der „reinigenden“ Leitfunktion der Vernunft unterwirft er selbst die Religionen. Normativ wird aber jede nach-hellenistische, etwa die neuzeitliche Rationalität (mit ihren philosophischen und naturwissenschaftlichen Auswirkungen) der hellenistischen Vernunft unterstellt. Recht hat nur, wer sich an Sokrates und Platon messen kann. Der Grund dieser Einschränkung aber ergibt sich aus einer strengen inhaltlichen Restriktion. Im Kern denkt der hellenistisch orientierte Theologe den Vernunftbegriff als Substanz, als ein Wesen. Alle Vernunft gründet nämlich im „Logos“, dem göttlichen Wort, das in Jesus Christus Mensch geworden ist. Letztendlich also wird nicht die christliche Botschaft dem Urteil der Vernunft unterstellt, sondern wird umgekehrt die Vernunft dem Urteil der katholischen Kirche unterworfen, da sie den menschgewordenen Logos repräsentiert. Die hellenistische Ära bleibt der normative Fixpunkt allen gültigen Denkens, weil – im selben Verstehenszirkel – die katholische Kirche das Zentrum der Weltwahrheit bleiben muss.

4.3 Religion und säkulare Gesellschaft

Höchst bedroht sind für J. Ratzinger in Europa die (christliche) Religion und der Glaube an Gott. In der Tat hat der traditionelle Gottesglaube starke Einbrüche erfahren. Zum besseren Verständnis dieses Prozesses ruft Ratzinger aber nicht soziologische oder religionswissenschaftliche Analysen zu Rate. Vielmehr lässt er sich von der Frage leiten, in welchen historischen Etappen der katholische, mit der antiken Vernunft korrelierte Glaube seinen kulturellen Einfluss verloren hat. Auch hier stoßen wir auf eine bemerkenswerte Inkonsequenz.

Aufschlussreich ist dabei das Gespräch, das im Januar 2004 Kardinal Ratzinger mit Jürgen Habermas führte [JR 2006a]. Beiden Gesprächspartnern wird vom Gesprächsleiter die Frage gestellt, „wie eine sich selbst als plural verstehende Gesellschaft gemeinsame Ligaturen, […], erkennen und anerkennen kann und soll. Und […] wie Glaubende ihre von Transzendenz her sich begründende und verstehende Existenz in dieses gesellschaftliche Erkennen und Anerkennen einbringen können und sollen.“

Habermas bricht ein Lanze dafür, dass der religiöse Diskurs von der säkularen Gesellschaft gehört wird. Wie er andernorts ausführt, sieht er im religiösen Diskurs Sensibilitäten, die dem säkularen Diskurs abhanden gekommen sind. Dabei geht es um Fragen der Schuld und des verfehlten Lebens, um die Deformation entstellter Lebenszusammenhänge, um Quellen von Solidarität und gesellschaftlicher Integration. Ratzinger nimmt diese Würdigung gerne zur Kenntnis. Er trifft sich mit Habermas in der Würdigung der Vernunft als dem entscheidenden Medium, das eine universale Kommunikation ermöglicht und der Gewalt Einhalt bieten kann. Allerdings kenne auch sie ihre Deformationen. Dabei nimmt Ratzingers Gedankenführung einen düsteren, nahezu richtungslosen Verlauf. Man fühlt sich an Ernst Troeltsch’s berühmten Ausruf von 1896 angesichts der bürgerlichen Kultur erinnert, dass „alles wackelt“, wenn nicht gar zugrunde geht. Mit Nachdruck verweist Ratzinger auf die gewaltsamen Folgen der (modernen) Rationalität, auf die Grenzen der Wissenschaft und den oft tödlichen Missbrauch der Technik, auf das Problem der Demokratie, die der Minorität grundsätzlich Rechte entziehe. Er nennt aber auch die Pathologie von Religionen, deren Begeisterung in Fanatismus umschlagen kann. Auf welche gemeinsamen Wahrheiten und Werte können wir also hoffen? Dabei erkennt er den Religionen kein politisches Steuerungspotential zu; das sei Sache der Staaten.

Bei diesem Patt der gegenseitigen Gefährdungen setzt Ratzinger auf gegenseitige Beziehungen und eine Gemeinsamkeit, die er wegen des komplexen kulturellen Charakters „Korrelation“ bzw. „Korrelationalität“ nennt. Religion und säkularer Staat, Glaube und Vernunft haben die Aufgabe einer gegenseitigen „Reinigung“, die auch in anderen Kulturräumen und nicht zuletzt zwischen ihnen stattfindet. Da die westliche Rationalität inzwischen überall anzutreffen ist, nennt Ratzinger diese Korrelationalität „polyphon“.

Leider wurde das Gespräch nicht zu einem befriedigenden Ende geführt, denn die Gesprächspartner kamen nicht zu einem gemeinsamen Punkt [zum Folgenden: Fleischmann]. Der säkulare Philosoph Habermas hat an anderer Stelle den für ihn wunden Punkt genannt, den der Kardinal bei seiner Positionsbestimmung verschwieg. Der Philosoph begreift, der Moderne durchaus angemessen, das rationale Wahrheitsgespräch als einen prinzipiell falliblen, immer weiterführenden Prozess. Dagegen versteht der Repräsentant der Kirche den christlichen Glauben als ein infallibles und mitteilbares Ergebnis. Dabei hat nach Ratzingers Konzept die christliche Theologie ihre Korrelation zwischen Vernunft und Glaube schon zu hellenistischer Zeit prinzipiell vollzogen. In jener Kulturepoche hat die Rationalität ihre inhaltliche Vollendung gefunden. Jetzt kann es nur darum gehen, das Kirchenvolk notfalls wieder an diese Vernunft zu erinnern; letztlich ist sie ja Jesus Christus selbst. Trotz aller Freundlichkeit akzeptiert der Glaubenshüter die säkular rationalen und die demokratisch strukturierten Vorbedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft gerade nicht, während der einer säkularen Gesellschaft verpflichtete Habermas das irreformable Wahrheitsverständnis des (katholischen) Glaubens gerade dort ablehnen muss, wo er deren Hilfe erwartet. Habermas kann die Krise der modernen Demokratie gerade nicht „mit einer Anleihe an vordemokratischen Strukturen kompensieren“ wollen [Fleischmann].

Zwischen der so verstandenen katholischen Wahrheit und der Aufklärungswahrheit klafft also ein Riss, der nach Koller durch den Träger des Papstamtes selbst hindurchgeht [Koller]. Wenn das aber der Fall ist, dann kann man auch Ratzingers Rhetorik durchschauen. Einerseits erweckt er den Eindruck eines universal und offen denkenden Theologen bzw. Intellektuellen. Andererseits erklärt er, antiintellektuell par excellence, dass ohne Kirche die gesamte Welt ins Unheil versinkt.

4.4 Widersprüche und Vereinfachungen

Weitere Querschnitte ließen sich durch J. Ratzingers Denk- und Argumentationswelt legen, etwa zum Verhältnis von Wahrheit, Gewissen und Toleranz, zur Beurteilung von Werten und Demokratie, zum Respekt vor anderen Religionen und deren Defizienz in Fragen des Heils. Wichtig sind für unsere Analyse nicht die Widersprüche seines Denkens an sich. Bei welchem Denker lassen sie sich nicht finden? Aber ein Problem wird deutlich: Bei all den genannten Argumentationsmustern bricht ein Grundwiderspruch auf, der die offizielle Identität der katholischen Kirche seit spätestens 1870 durchzieht. Einerseits wird eine universal, rational abgeklärte Wahrheit für Gesellschaft und Welt eingefordert, andererseits wird diese an einer vormodern und substantiell begriffenen Wahrheit festgemacht, zugleich institutionell und liturgisch abgesichert. Zusätzlich erklärt sich die so verstandene katholische Kirche zum Kern des Wahrheitsgeschehens. Beklagt wird die wachsende Orientierungslosigkeit, angeboten wird dafür eine Lösung, die durch Monokratie und Dialogmangel aktuelle Orientierungen verhindert.

In anderer Weise zeigt sich dieses Problem im jüngsten, höchst erfolgreichen Buch Licht der Welt (JR 2010)[19], das der Welt mit globalen Vorwürfen gegenübertritt und selbst nur globale Lösungen anbietet. Alle Schuld wird bei der Gesellschaft, alles Heil bei der Kirche gesucht. Die Kirche bietet den Maßstab des Guten, des Heils und aller Vernunft. Dieser Automatismus der Selbstverteidigung führt zu einer Egozentrik, der Ratzingers Wille zu Wahrheit und Gerechtigkeit Lügen straft und dem nichts hinzuzufügen ist:

„Wenn man beispielsweise im Namen der Nichtdiskriminierung die katholische Kirche zwingen will, ihre Position zur Homosexualität oder zur Frauenordination zu ändern, dann heißt das, dass sie nicht mehr ihre eigene Identität leben darf, und dass man stattdessen eine abstrakte Negativreligion zu einem tyrannischen Maßstab macht, dem jeder folgen muss. Das ist dann anscheinend die Freiheit – allein schon deshalb, weil es die Befreiung vom Bisherigen ist. In Wirklichkeit jedoch führt diese Entwicklung mehr und mehr zu einem intoleranten Anspruch einer neuen Religion, die vorgibt, allgemein gültig zu sein, weil sie vernünftig ist, ja, weil sie die Vernunft an sich ist, die alles weiß und deshalb auch den Raum vorgibt, der nun für alle maßgeblich werden soll.“ [71f.]

Man möchte dem Papst ein anderes Wort aus demselben Buch entgegenhalten. Unter Verweis auf Augustinus sagt er:

„Es sind viele draußen, die drinnen zu sein scheinen; und es sind viele drinnen, die draußen zu sein scheinen. Bei einer Sache wie dem Glauben, der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche, ist Innen und Außen geheimnisvoll miteinander verwoben.“ [JR 2010, 22]

Damit soll nicht gesagt sein, J. Ratzinger stehe außerhalb seiner eigenen Kirche. Aber er muss sich fragen lassen, ob er den Kern der christlichen Botschaft in einen säkularen Diskurs zu übersetzen weiß. Ein religiöser Intellektueller ist an der Frage zu messen: Gelingt es ihm, der säkularen Welt die Gottesfrage nicht einfach vorwurfsvoll entgegen zu schleudern, sondern diese Frage angemessen in die großen Erwartungen und Hoffnungen der Menschheit zu übersetzen? Das hat wohl Johannes XXIII. vor 50 Jahren mit aggiornamento gemeint.

Verwendete Literatur

* Konrad Ackermann, Der Widerstand der Monatsschrift Hochland gegen den Nationalsozialismus, München 1965.
* Harald Bäumler, Mit Muth ins Hochland. Carl Muths „Beitrag“ zum „Modernismus litterarius“, Regensburg 2009.
* Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen 1898-2001. Geburt – Begriff – Grabmal, Berlin 2010.
* Pierre Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, (hg. von Irene Dölling), Hamburg 1991.
* Ulrich Bröckling, Katholische Intellektuelle in der Weimarer Republik. Zeitkritik und Gesellschaftstheorie bei Walter Dirks, Romano Guardini, Carl Schmitt, Ernst Michel und Heinrich Mertens, München 1993.
Ernst Robert Curtius, Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus, Bonn 1921.
Friedrich Dürrenmatt, Die Physiker, (Neufassung), Zürich 1980.
Richard Faber, Besprechung von M. C. Giacomin, in: Das Argument 284 (Heft 6, 2009), 959-961.
Florian Fleischmann, Wasserlos waschen auf welkem Gras – zur Habermas-Ratzinger-Debatte, Perspektive 89 (http://perspektive89.com/2006/05/14/wasserlos_waschen_auf_welkem_gras_zur_habermas_ratzinger_debatte).
Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1976.
Friedrich Fuchs, Die deutschen Katholiken und die deutsche Kultur im 19. Jahrhundert. Zur geistesgeschichtlichen Einordnung von Karl Muths Werk, in: Wiederbegegnung von Kirche und Kultur in Deutschland. Eine Gabe für Karl Muth, München 1927.
Theodor Geiger, Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, Stuttgart 1949.
Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, Romano Guardini 1885-1968. Leben und Werk, Mainz 1985.
Maria C. Giacomin, Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im Hochland (1903-1918), Kevelaer 2009.
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Anmerkungen

[1] Die verwendete Literatur wird in der Literaturliste aufgeführt und im Text in Kurzform [Autor, gegebenenfalls Erscheinungsjahr, Seite] zitiert. Die Textzitate von Ratzinger sind mit [JR, Erscheinungsjahr, Seite] gekennzeichnet.

[2] Der einflussreiche Autor und Politiker Maurice Barrès, gelegentlich auch „Erzvater des Faschismus“ genannt, war damals mit einem Roman über den verachtenswerten Typ der entwurzelten, heimat- und verantwortungslosen Gebildeten beschäftigt, die er als „Intellektuelle“ bezeichnete und nach dem Aufruf „J’accuse“ von Émile Zola massiv angriff. Der Titel des 1897 erschienenen Romans lautete: Die Entwurzelten (Les déracinés) [Bering, 31-51; Curtius].

[3] Ratzingers Antrittsrede ist in ausgearbeiteter Form erschienen unter dem Titel „Werte in Zeichen des Umbruchs“, in: JR 2005a, 41-48.

[4] Dazu gehören G. Gutiérrez, E. Cardenal, L. Boff, J. Sobrino und andere.

[5] Europa-Artikel und Regensburger Rede.

[6] Diese Redeweise wirkt offenbar stilbildend. Am 5.2.2001 sprach der Limburger Bischof F.-P. Tebartz-van Elst von einer „Diktatur der Diesseitigkeit“ (www.kirche-in-not.de).

[7] Am 28.9.2007 veröffentlichte der National Catholic Reporter (USA) eine Liste von Theolog/innen und Seelsorger/innen, die seit 1979 von Rom ermahnt oder zensuriert wurden. Ratzinger agierte seit November 1981 als Präfekt der Glaubenskongregation.

[8] 1864 verurteilt Pius IX. im Syllabus errorum folgende Aussage: „Die menschliche Vernunft ist – ohne dass Gott irgendwie berücksichtigt würde – der einzige Richter über Wahr und Falsch sowie Gut und Böse; sie ist sich selbst Gesetz und reicht mit ihren natürlichen Kräften hin, für das Wohl der Menschen und Völker zu sorgen.“ (DS 2903). Der zweite Teil der Aussage trifft das Ethos des Intellektuellen ins Herz.

[9] Die Liste der Namen ließe sich weiterführen. Inwieweit und unter welchen Bedingungen die von Karl Muth 1901 gegründete, bis 1971 bestehende Zeitschrift Hochland intellektuelle Figuren versammelt und ihnen ein – kulturelles, ästhetisches oder politisches – Forum geboten hat, sei hier nicht näher untersucht; vgl. Bäumler.

[10] 1891 wurde die soziale Frage in der Enzyklika Rerum Novarum (Leo XIII.) offiziell aufgegriffen; 1931 folgte Quadragesimo anno (Pius XI.), 1981 Laborem exercens und 1991 Centesimus Annus (beide von Johannes Paul II.). In etwa schließt 2009 Caritas in veritate (Benedikt XVI.) an diese Tradition an.

[11] Auch sie verdankt sich den Impulsen von Intellektuellen. Sie begann mit der Gründung eines Studienzentrums und eines Seminars; 1943 folgte das epochemachende Buch von Henri Godin und Yvan Daniel.

[12] Man denke an Carl Schmitt, der in vielen Variationen die Affinität zwischen der katholischen Kirche und einem autoritär handelnden Staat affirmativ herausgearbeitet hatte.

[13] Kennzeichnend für die Mentalität von Hochland sind nach Giacomin [Giacomin, 70] Aussagen wie die des österreichischen Kulturphilosophen Kralik: „Es gibt außer der Kirche keine wahre Religion, die eine vollkommene Weltanschauung gewährt. Es gibt außer der klassischen antiken Kultur keine zweite mögliche Kultur … Alle weltgeschichtlich bedeutenden Staaten sind von Germanen gegründet worden.“ [Kralik 26f.]

[14] Gemeint sind die Mitglieder der vom französischen Bischof Marcel Lefebvre gegründeten „Priesterbruderschaft Pius X.“, die bis heute streng antikonziliare, antidemokratische und teilweise massiv antijudaistische Positionen vertritt, entsprechend der Herkunft ihres Begründers aus der faschistoiden Action française.

[15] Der Text des Gebetes lautet: „Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als den Retter aller Menschen erkennen. – Beuget die Knie / Erhebet Euch! – Allmächtiger ewiger Gott, der du willst, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen, gewähre gnädig, dass beim Eintritt der Fülle der Völker in deine Kirche ganz Israel gerettet wird. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen.“ [Ginzel, 320]

[16] Die hier vorgetragene Kritik findet sich im Ansatz schon bei seinen Bemerkungen über den Exegeten F. W. Maier (1883-1957), den er in München hörte und wegen dessen Nähe zu einer liberalen Tradition kritisierte: „Auch wenn ich die Schwächen von Maier allmählich stärker empfunden habe, der die ganze Tiefe der Christusgestalt nicht zu sehen vermag, so bleibt für mich das bei ihm Gehörte und methodisch Gelernte grundlegend.“ (JR 1998, 58). In diesen Worten fasst Ratzinger ein Unbehagen zusammen, dem er in seinem Jesusbuch weiten Raum gibt. (Zur Kritik an ihm vgl. u.a. Wolfgang Stegemann.)

[17] Dieser sich rational gebende Mythos scheint die Phantasien auch vieler katholischer Theologen zu beflügeln. Vor seiner Papstwahl spielte das theologische Denken Ratzingers im katholisch theologischen Diskurs eher eine marginale Rolle. Danach schwollen Textausgaben, Monographien und Sachartikel über Ratzingers Theologie sprunghaft an.

[18] Dies geschah durch Johannes XXII. in der Bulle Quia quorundam (1324) als Reaktion auf den Versuch, ihn im franziskanischen Armutsstreit an Beschlüsse seiner Vorgänger zu binden.

[19] Vgl. dazu die früheren autobiographischen Bücher und Interviews JR 1996, JR 1998 und JR 2000a